Es ist ein Lehrstück über die Macht der Bürger:innen, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen: Als die Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ vor drei Jahren an die Öffentlichkeit ging, hätte wohl kaum einer gedacht, dass so viele Menschen ihr Vorhaben unterstützen würden. Doch nun haben 350.000 Berliner:innen mit ihrer Unterschrift eine Volksabstimmung über die Forderung ermöglicht, private Wohnungskonzerne mit mehr als 3.000 Wohnungen gegen eine Entschädigung zu enteignen. Die Hürde für solch einen Volksentscheid liegt weit unter der hier erreichten Unterstützerzahl – bei 170.000 Unterschriften. Alle Bürger:innen können nun am 26. September darüber abstimmen, ob die La
Landesregierung ein Gesetz für die Vergesellschaftung von rund 240.000 Wohnungen erarbeiten soll.Die Leichtigkeit, mit der dieses Ziel erreicht wurde, ist beeindruckend. Vor allem angesichts der Umstände. Die Kampagne lief unter Pandemiebedingungen, und als das Bundesverfassungsgericht vor einigen Wochen den Berliner Mietendeckel zurückwies, vermuteten nicht wenige einen Nackenschlag für die Bewegung. Doch all das konnte den Erfolg von „Deutsche Wohnen enteignen“ mit ihrer durchaus radikalen Forderung nicht mindern.Das hat viel mit den Alltagserfahrungen der Mieter:innen zu tun. Erst vor Kurzem hat eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung gezeigt, dass fast 50 Prozent aller Haushalte in deutschen Großstädten über 30 Prozent ihres Einkommens für die Miete aufwenden. Das ist mehr als das, was gemeinhin als leistbar gilt. Und in der vergangenen Woche ergab eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion, dass jeden Tag 72 Wohnungen aus der Sozialbindung fallen. Gleichzeitig bezahlen private Wohnungskonzerne gute Dividenden. Am Wohnungsmarkt leiden die Menschen unter einem krankenden System, in dem ein Grundbedürfnis auf einen Markt voller renditeorientierter Akteur:innen trifft.Dieser Zustand ist nicht gottgegeben, sondern die Folge einer Politik, in der Großstädte wie Berlin ihre Wohnungen zum Spottpreis an Konzerne verscherbelten und sozialer Wohnungsbau in Deutschland einen schlechten Stand hatte.Viele Parteien haben auf diese Zustände keine überzeugenden Antworten. Sie sprechen von „der sozialen Frage unserer Zeit“, um dann den Bürger:innen eine zahnlose Mietpreisbremse oder die Hoffnung auf Neubauprogramme als Lösung zu verkaufen. Nun ist beides nicht per se verkehrt – die zentrale Frage, ob das Grundbedürfnis nach einer Wohnung von den Kräften des Marktes geregelt werden sollte, ignorieren sie aber. „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ hat sie nun in den Fokus gerückt, und mehr als das: Es ist das zahlenmäßig erfolgreichste Volksbegehren, das es je in Berlin gegeben hat. Politiker:innen sagen im Wahlkampf gerne: „Wir müssen den Wählern ein Angebot machen.“ Nun kommt dieses Angebot aus der Zivilgesellschaft selbst.Viele Parteien können indes mit dem Begriff der Vergesellschaftung nichts anfangen. Statt für Enteignung wolle sie das Geld „lieber sinnvoll“ ausgeben, sagt Franziska Giffey, SPD-Spitzenkandidatin in Berlin. Sie wolle stattdessen jährlich 20.000 Wohnungen in Berlin bauen. Die FDP warnt gar vor dem finanziellen Ruin der Stadt, sollte der Volksentscheid am Ende tatsächlich erfolgreich sein.Und so ist eine weitere Erkenntnis aus diesem Lehrstück der Mietenbewegung: Die Zivilgesellschaft scheint bei der Lösung konkreter Probleme zu mehr Radikalität bereit als viele Parteipolitiker:innen. Radikal im wörtlichen Sinne – denn sie packen das Problem an der Wurzel.Fundamental in der Sache und für viele zugänglich, so sehen progressive Kämpfe heutzutage aus. Denn die Initiative hat mit ihrem Vorschlag die Interessen breiter Gruppen in der Gesellschaft abgebildet. Anders ist der überragende Erfolg nicht zu erklären. Unaufgeregt hat die Kampagne Politik gemacht und die klassischen politischen Akteur:innen so vor sich hergetrieben. Und die reagieren ganz nach gewohntem Muster. Der Berliner CDU-Chef Kai Wegner spricht von „Enteignungsfantasien von vorgestern“. Das klingt nach einem fast schon verzweifelten Versuch, die Aktivist:innen in die bewährte „Linke-Spinner“-Ecke zu stellen. Nur passt dieses Muster so gar nicht auf die Initiative, denn ihre Unterstützer stammen aus allen sozialen Gruppen.Stattdessen hat die Unterschriftensammlung für den Volksentscheid gezeigt, dass linke Kämpfe auf mehreren Ebenen gleichzeitig ansetzen müssen, um erfolgreich zu sein: Menschen können ihre Wohnung verlieren, weil sie prekär beschäftigt sind und sich steigende Mieten nicht mehr leisten können, Menschen können keine neue Wohnung finden, weil ihr Name für Vermieter nicht „deutsch genug“ klingt. Kampf gegen Rassismus und Klassismus kann sehr wohl Hand in Hand gehen.Nach ein paar Tagen Durchatmen wird es weitergehen, und vermutlich wird am Ende wieder das Verfassungsgericht urteilen müssen. Die Gutachten-Schlacht der vergangenen Jahre um den Berliner Mietendeckel lässt einiges erahnen. Doch schon jetzt zeigt der Erfolg der Kampagne, wie radikaler Wandel aus der Mitte der Gesellschaft aussehen kann. So funktioniert Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft. Man könnte sagen: Ein Lehrstück für die Demokratie.