Tyshawn Sorey: Ein Portrait

Jazzfest Berlin 2017 John Murph portaitiert den ersten Artist-in-Residence des Jazzfest Berlin

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Erwarten Sie das Unerwartete. Oder erwarten Sie überhaupt nichts. Das wäre wohl der Rat, den der 37-jährige Tyshawn Sorey aus Newark, New Jersey, Artist-in-Residence des diesjährigen Jazzfest Berlins, Ihnen vor einem seiner Konzerte bestenfalls geben würde. Er wird nicht nur mit seinem Trio (mit dem Bassisten Chris Tordini und dem Pianisten und Keyboard-Spieler Cory Smythe) einen Einblick in seine neueste, aufregende Aufnahme „Verisimilitude“ (Pi Recordings) geben, sondern ist darüber hinaus in verschiedenen anderen Besetzungen und klanglichen Ausrichtungen auf dem Festival präsent, darunter in einem weiteren Trio mit Tordini und der Saxofonistin Angelika Niescier und in einem Duo-Auftritt mit dem deutschen Saxophonisten Gebhard Ullmann. Außerdem wird sich ein 21-köpfiges akustisch-elektrisches Orchester an einer speziellen Version seines „Autoschediasmus“‘ versuchen. Hierbei handelt es sich um ein hybrides „Conduction”-System, in dem Sorey Verfahren zur Einsatz- und Signalgebung, die Lawrence D. „Butch“ Morris und Anthony Braxton entwickelt haben, mit von ihm selbst ausgearbeiteten Spielregeln für die Improvisation in großen Formationen kombiniert.

„Kommen Sie nicht mit bestimmten Erwartungen zu meinen Konzerten“, bekräftigt Sorey. „Mir kommt es nicht darauf an, wie viel von der Musik improvisiert und wie viel durchkomponiert ist; es geht noch nicht einmal darum, wie mein Schlagzeug klingt. Es geht darum, wie gut die Band klingt; es geht darum, wie es Ihnen bei der Musik geht; und es geht darum, wie es den Musiker*innen bei der Musik geht. Das ist der größere Zusammenhang, der mich bei jedem einzelnen Auftritt interessiert. Und ich hoffe, das Publikum nimmt diese größeren Zusammenhänge in meiner Musik mit nach Hause.“

Sorey hat für seine unbegrenzte Virtuosität und seine wunderbaren Kompositionen weltweite Anerkennung erhalten. Er geht so weit über die bekannten Grenzen hinaus, dass es seiner umfassenden Künstlerschaft nicht gerecht zu werden scheint, ihn nur als Jazzschlagzeuger zu bezeichnen. In der „New York Times” hieß es, er „spiele nicht nur mit orkanartiger Körperlichkeit, sondern auch mit einem großen Gefühl für Maß und Gleichgewicht.“ Das „Wall Street Journal” pries ihn als „Komponisten voller radikaler und scheinbar unbegrenzter Ideen.“

Wenn er sein eigenes musikalisches Können beschreiben soll, das außerdem ausgearbeitete Kompositionen und das Klavier- und Posaunenspiel umfasst, nennt er sich gerne einen „freien Musiker“, dem es erlaubt ist, jedem musikalischen Wunsch seines Herzen und seines Verstands zu folgen. „Ich bin ein schwarzer Typ hinter einem Schlagzeug und das allein genügt schon, um mich in eine bestimmte musikalische Schubladen zu stecken, um mich von der Beschäftigung mit anderen Musikformen abzuhalten“, erklärt Sorey seine Bestrebung, die kategorisierenden Stereotypen zu brechen, die ihn als schwarzen Musiker einschränken. „Das ist ein echtes Problem für mich. Ich bin kein Jazzmusiker, noch bin ich Avantgardist des 20. Jahrhunderts oder Funk-Musiker. Ich verstehe mich wirklich als ein Musikstudent und ein Mensch, der alle Arten von Musik vieler verschiedener Ursprünge und Kulturen liebt. Mein Impuls ist es, sie alle so genau wie möglich zu studieren. Also kommen Sie nicht zu meinen Konzerten mit der Erwartung, nur straighten Jazz zu hören zu bekommen.“

Man sollte aber genau so wenig erwarten, dass er nicht mit straightem Jazz aufwartet, denn dieses musikalische Idiom gehört eben auch zu seinem umfassenden musikalischen Vokabular. „Vielleicht spiele ich an einem Abend nichts als lupenreinen Jazz und am nächsten Abend nur Improvisationen. Am Abend darauf spiele ich dann vielleicht ein Noise- oder einen Metal-Gig. Ich versuche, mich auf jede Situation hundertprozentig einzulassen. Meine Philosophie ist , in meiner Praxis keinen Musikstile weniger ernst zu nehmen als andere. Wenn ich bemerke, dass ich in meiner Kunst irgendeinen Stil diskriminiere, dann ist das ein Problem, mit dem ich mich beschäftigen muss. Ich kann es doch nicht dem musikalischen Genre anlasten, dass ich es nicht mag. Damit müsste ich mich auseinandersetzen. Und dann es ist meine Entscheidung, ob mich mit dieser Frage beschäftige oder nicht“, sagt er.

Die Wurzeln für seine Neugierde und Furchtlosigkeit geht auf sein Engagement in der Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) zurück, der Organisation, die Pioniere wie den Pianisten Muhal Richard Abrams, den Posaunisten George Lewis, den Trompeter Wadada Leo Smith und die Saxofonisten Roscoe Mitchell und Braxton hervorbrachte. Sie alle waren Soreys Lehrer. „Diese Organisation hat immer noch eine große Auswirkung auf meine Kunst. Genau genommen hat die AACM wahrscheinlich den größten Einfluss auf meine Musik der letzten 20 Jahre gehabt“, begeistert sich Sorey. „Die Musiker der AACM haben mich sehr unterstützt, vor allem, wenn ich den Mut verlor. Sie haben mich immer dazu ermutigt, meine künstlerischen Ziele zu verfolgen und mich nicht zu sehr darauf zu beschränken, ein Sideman, zu sein. Ein Sideman zu sein ist das Eine, aber die eigene Musik muss man wirklich ernst nehmen. Das habe ich von all diesen Musikern gelernt.”

Die AACM stattete Sorey zudem mit der nötigen mentalen und emotionalen Standhaftigkeit aus, um alle auf ihn projizierten Einschränkungen auszuschalten. „Dieser Gedanke, ein schwarzer Komponist sein zu können – das war mir völlig unbekannt, bis ich ihre Arbeit entdeckte“, erinnert sich Sorey. „Diese Entdeckung ermutigte mich. Sie gestattete mir, mich wirklich darauf zu konzentrieren, meine eigenen Kompositionen auf dem höchstmöglichen Niveau zu entwickeln. Die Bekanntschaften mit diesen Musiker*innen über die letzten 15 Jahre waren eine großartige Erfahrung für mich und hat noch immer eine echte Auswirkung auf meine musikalischen Werke.“

Auch Soreys musikalische Verbindungen mit Freidenkern wie den Saxofonisten Steve Coleman und Steve Lehman, den Pianist*innen Vijay Iyer, Marilyn Crispell und Myra Melford und der Flötistin Claire Chase haben seine musikalische Vision geprägt. Als Perkussionist und Komponist arbeitet er zudem regelmäßig mit dem International Contemporary Ensemble zusammen. Und wie die AACM und die oben genannten Musiker*innen fundierte Sorey seine Kunst mit einer beachtlichen akademischen Laufbahn: Vor kurzem promovierte er an der Columbia University in Musik; vor sechs Jahren schloss er einen Master-Studiengang in Komposition an der Wesleyan University ab. Interessanterweise hatte er sich für seinen ersten Studiengang an der William Paterson University noch für das Fach Posaune eingeschrieben. In diesem Herbst kehrt Sorey als Assistenzprofessor für Komposition an die Wesleyan University zurück.

Diese Kombination aus erstklassiger Ausbildung und musikalischer Brillanz führte Sorey zu einer Reihe bemerkenswerter Auftritte und Auftragsprojekten, darunter die Unterstützung durch die Jerome Foundation, die Shifting Foundation, das Van Lier Fellowship sowie Auftritte mit dem Spektral Quartet und beim Ojai Music Festival. Demnächst wird er gemeinsam mit der Opera Philadelphia eine Auftragsarbeit für den Tenor Lawrence Brownlee entwickeln, in denen es um Themen der Black Lives Matter-Kampagne gehen wird.

In diesem Jahr tritt Sorey zum zweiten Mal beim Jazzfest Berlin auf. Im vergangenen Jahr wirkte er in Myra Melfords Snowy Egret-Ensemble mit. Sorey freut sich sehr darauf, als Artist-in-Residence zum Jazzfest zurückzukehren, denn so kann er die Bandbreite seiner Arbeit zeigen engere Verbindungen mit deutschen Musikern knüpfen. „Ich habe eine besondere Beziehung zu Deutschland“, sagt er. „Die Menschen in Deutschland haben mich immer gut behandelt und meine Arbeit auf großartige Weise unterstützt. Es wird eine tolle Gelegenheit sein, viele Musiker*innen der Berliner Szene wiederzutreffen, die ich über die letzten 15 Jahre kennengelernt habe. Und ich freue mich sehr darauf, neue Möglichkeiten auszuloten.“

Als erster Artist-in Residence des Jazzfest Berlin ist Tyshawn Sorey gleich mehrfach präsent. Das erste Konzert mit Tyshawn Sorey und seinem Trio findet am Donnerstag, 2. November 2017 um 20:00 Uhr statt. Anlässlich der Albert-Mangelsdorff-Preisverleihung am Freitag, 3. November spielt Tyshawn Sorey erneut zusammen mit Chris Tordini und der Preisträgerin Angelika Nescier um 17:30 Uhr. Am selben Tag, um 23:00 Uhr ist er dann im Duo mit dem Saxofonisten Gebhard Ullmannauf der Seitenbühne des Festspielhauses zu hören. Mit einer großen Ensemble-Formation gestaltet er das Abschlusskonzert des Festivals am Sonntag, 5. November um 19:00 Uhr mit. Alle Konzerte finden im Haus der Berliner Festspiele statt.

Dieser Essay ist im Magazin zum Jazzfest Berlin 2017 erschienen, weitere Essays sind auf dem Berliner Festspiele Blog nachzulesen.

Autor: John Murph, Übersetzung: Elena Krüskemper
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