Russen sind nicht explizit homophob, ...

Sochi 2014 - sie sind ganz insgesamt, mit unseren Augen gesehen, rückständig, konservativ, verklemmt ...

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Die russische Gesellschaft ist nicht explizit homophob, ...

sie ist ganz insgesamt, mit unseren Augen gesehen, prüde, rückständig, unaufgeklärt, konservativ, verklemmt ... das mag man nicht glauben ... sofort kommen einem leicht bekleidete Russinnen in den Sinn. Bei aller Love Parade Optik herrscht aber eine Formalität und Prüderie wie auf dem Wiener Opernball. Im Alltag ... Zeitungskioske sind pornofrei und Frauen im russischen Playboy erscheinen nicht ohne Slip ... Kinder sollen ihre Eltern niemals nackt sehen, ... selbst Küssen, Umarmungen, Zärtlichkeiten auch heterosexueller Paare in der Öffentlichkeit sind ausserhalb Moskaus oder St. Petersburg, wenn überhaupt, auf Jugendliche beschränkt - über Sexuelles wird grundsätzlich nicht offen gesprochen. Berichte, TV-Reportagen, Diskussionen über Sex-Praktiken, über die Erotik-Branche oder gar BDSM sind in RUS völlig undenkbar. Infolgedessen gibt es natürlich auch keinerlei öffentlichen oder medialen Diskurs über Homosexualität.

Wenn man an RUS denkt, sollte man nicht nur Moskau im Sinn haben ... zu RUS gehören ebenso die vielen, vielen Millionen Russen in den Bergdörfern des Kaukasus oder im Ural, die Nomaden der Tundra und Taiga Sibiriens, die im Extremfall noch ganz traditionell leben, ohne fliessend Wasser oder Strom. Das sind Gebiete, die völlig abseits sog. zivilisierter Kulturen leben ... im Kaukasus etwa regieren konservative, alteingesessene Familien-Clans und ihre Führer, ganz unabhängig davon, wen irgendwelche Wahlen gerade versucht haben, als legitimierte Führer auszugeben.

Eine weitere Komponente ist, dass die über 20 Millionen Muslime in RUS dort und anderswo natürlich eine ablehnende Haltung zu öffentlichen Diskussionen über Sexualität oder gar zur Homosexualität an den Tag legen, ebenso wie die Millionen besonders orthodoxen Christen der russisch-orthoxen Kirche.

Insgesamt war die russische Gesellschaft aber trotz dieser traditionellen Gebiete bereits soweit, dass sie 2010 mehrheitlich mit 52% zu 40% dafür war, dass Homosexuelle dieselben Rechte haben sollten wie Heteros (was immer das auch heisst).

Für die russisch-orthodoxen Kirche ist das ganze Treiben in Moskau suspekt, und Homosexualität die Inkarnation der freizügigen Perversionen, die sie am liebsten ganz verbieten würden. Für sie wie für ihre konservativen Anhänger sowie die Millionen Muslime in RUS ist Homosexualität eine Krankheit (33%) ... für 42% eine schlechte Angewohnheit aber nur für 20% einfach eine sexuelle Orientierung.

Das Gesetz zum Schutze der Kinder und Jugendlichen vor Nicht-Traditionellen Lebensweisen ist da natürlich mehrfach perfide. Zum einen diskriminiert es ja nicht nur Homosexualität, sondern auch etwa Partnertausch, oder Leben zu Dritt, oder ... - und ist so gar nicht zielgerichtet homophob diskriminierend angelegt. Zum weiteren appelliert es an den Schutz von Kindern - was in RUS besonders hoch gewertet wird- macht aber Homosexuelle offiziell zu einer Gruppe, vor die man seine Kinder schützen muss. Zum weiteren verbietet dieses Gesetz offiziell keineswegs das Ausleben, sondern 'nur' die öffentliche Zurschaustellung persönlicher Sexualität - was ja wie beschrieben, den Russen ohnehin insgesamt fremd ist. Und zum anderen ist es wie viele repressiven Gesetze in RUS so schwammig formuliert, dass es den jeweiligen staatlichen Stellen obliegt, wie sie das auslegen.

Homosexuelle können bestraft werden oder auch nicht, wenn sie sich öffentlich vor Kindern küssen (50 EUR) - was bedeutet überhaupt öffentlich und vor Kindern - 10, 20, 100 Meter Entfernung? ... Clubbesitzer können ihre Flyer nicht mehr verteilen, nicht mehr drucken, weil das ja ein Kind in die Hand bekommen könnte (10.000 EUR) ... u.v.m.

Das Schäbige an dem Ganzen ist, dass Putin sich für Homosexuelle eigentlich gar nicht interessiert, sondern das Gesetz in einem ganzen Reigen weiterer streng traditionalistischer Ver- und Gebote nur weiter forciert hat, um sich bei konservativen, nationalistischen, orthodoxen Wählern - meist ländlich, meist ungebildet - beliebt zu machen, nachdem ihm in Moskau u.a. Großstädten die liberaleren, reisenden, besser gebildeten Russen davon laufen (2012: 20% weniger als im übrigen Russland). Er betreibt also auf Kosten einer eigentlich schutzbedürftigem Minderheit seine billige PR, obwohl er als intelligenter Mensch genau weiß, dass Homosexualität nur eine sexuelle Orientierung ist (20%), und nicht wie 75% der Russen glauben, eine Angewohnheit (42%) oder gar eine Krankheit (33%), vor die man seine Kinder schützen muss, nicht wie die 75%, die auch annehmen, dass den Homosexuellen nichts verboten würde, was sie ohnehin selbst nie machen würden. Die 75%, die deshalb auch keinerlei Notwendigkeit sehen, dagegen protestieren zu müssen.

Es ist nicht nur für Homosexuelle ein schlimmes Gesetz, offenbart es doch ganz generell, mit welchen Mitteln und auf wen der russische Präsident derzeit sein Augenmerk richtet, nicht auf den kritischen, aufgeklärten, liberalen, intelligenten, sondern auf den leicht verführbaren, billig aufzuhetzenden Teil seiner seiner Bevölkerung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

berlino1010

Russland-Versteher in Ausbildung

berlino1010

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