Deutschland - Nivellierte Mittelschichtsgesellschaft?

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Vor einiger Zeit wollte ich es genauer wissen und fand heraus:

Die schichtenspezifische Einkommensanteile haben sich von 1914 bis 2004 wie folgt verändert: Die Oberschicht gab 10% Einkommensanteile an die Mittel-
schicht ab, die Unterschicht jedoch fast 40 % nach oben.

Jahr 1913 1974 2004
Anteil
Oberschicht 40,00% 33,00% 35,80%
(10% )
Mittelschicht 36,00% 45,00% 50,70%
(40%)
Unterschicht 24,00% 22,00% 14,90%
(50%)

Zur Schichtenzugehörigkeit nach Selbsteinschätzung und Realeinkommen gilt:

Nach Selbst- Nach NachNetto-
einschätzung relativem äquivalenz-
Einkommen einkommen
Oberschicht 9,00% 22,20% 12,80%
Mittelschicht 88,00% 41,30% 75,80%
Unterschicht 3,00% 36,40% 11,40%

„Die Angst vor unkontrollierbaren Schicksalsschlägen … verflöge bei vielen, wenn sie … das Verhältnis von Leistungen und Gegenleistungen … [durchschauten]“ „Staatliches Handeln hat ja alle diese Katastrophen erst heraufbeschworen,“ vor denen Menschen Angst haben. Intransparenz bestehe vor allem in der Verschleierung der historischen Zusammenhänge und der aktuellen Situation: “Der Sozialstaat nimmt den Bürgern mehr, als er ihnen gibt.“ (Miegel, Meinhard (2003): Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen, Propyläen, München, S. 10f.) „Die staatlich verordnete Solidarität bedarf … einer rational nachvollziehbaren Legitimation.“ Da die „verschlungenen Knoten der staatlichen Sozialtransferströme“ nicht aufgeschlüsselt werden, wisse keiner, „wer was von wem bekommt“. Ob die Forderung des Staates nach Solidarität dem Postulat sozialer Gerechtigkeit entspreche, sei unbeantwortet, klar sei aber: „Die Einkommensunterschiede sind heute größer als vor 25 Jahren und nicht kleiner als vor einem halben Jahrhundert.“ (Ebd. S. 22.)

Ohne Miegels Schlußfolgerungen zu teilen meine ich: Der Begriff „Sozialstaat“ wird benutzt für eine gesellschaftliche Konstruktion, die nicht dazu passt; aber man tut eben so als ob es einer wäre.

Einen Schritt weiter ging Ulrike Herrmann 2009 (In: Der Selbstbetrug der Mittelschicht, aus: Hurra, wir dürfen zahlen. Piper, München S. 9-41), die bei der Analyse der wirtschaftlichen Situation der Deutschen zum Schluss kommt, dass die Deutschen zur Selbsttäuschung neigen, und sogar formuliert: „Man könnte glauben, dass die Deutschen patentierte Masochisten sind, die politisch nur goutieren, was sie quält.“

Deutlich wurde ein falsches Selbstbild auch in dem 2008 erschienenen Armuts- und Reichtumsbericht des Arbeitsministeriums, einer repräsentativen Studie an 5000 Teilnehmern. Es wurde klar, dass „Reichtum“ kein objektiver Begriff ist, sondern stark vom individuellen Einkommen abhängt. Wohlhabende setzen die Grenzen weitaus höher an als Arme. So ergab sich ein Zielkorridor von monatlich 2000 bis 20000 Euro Nettoeinkommen bzw. 50000 bis 2 Millionen Euro Vermögen, die als „Reichtum“ bezeichnet wurden. Ulrike Hermann: „Obwohl die Bundesrepublik objektiv eine Klassengesellschaft ist, ist sie in der subjektiven Wahrnehmung tatsächlich eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft.“ Auch die Selbsteinschätzung zeigt diese Selbsttäuschung: Nur 9% rechneten sich zur Oberschicht, und der Unterschicht ordneten sich nur 3% zu. Dies bedeutet: Viele Privilegierte nehmen sich nicht als privilegiert wahr.

Nach Kriterien der Bundesregierung sind Einkommen ab 125% des Nettoäquivalenzeinkommens (NÄE) als „gehoben“ zu bezeichnen, 150 bis 200% werden als „relativer Wohlstand“ klassifiziert und „höherer Wohlstand“ fängt bei 200% des NÄE an. Im Wohlstand lebten nur 12,8% der Deutschen, 75,8% mit weitgespreiztem mittlerem Einkommen. Die Schlusslichter der angeblichen Wohlstandsgesellschaft scheuen die sengende Fackel der Wahrheit und glauben das nicht, was jeder wissen kann: Nach objektiven Erhebungen lebten im Jahr 2006 11,4 % der deutschen Bevölkerung in „relativer Armut“ (definiert als 0-50% des NÄE) und 25% in „prekärem Wohlstand“ (50-75% des NÄE).

Eine statistisch korrekte Bezugsgröße zur Messung des Einkommens ist das Nettoäquivalenzeinkommen (NÄE). Ein Single ab einem NÄE von 2964€ wird als reich eingestuft, eine vierköpfige Familie ist es ab einem Nettoeinkommen von 6863 €. Der Median des NÄE legt fest, wo die Mittelschicht beginnt und wo sie endet: Wer zwischen 70 und 150 Prozent des Medians hat, zählt dazu (Ein Single hat durchschnittlich 1482 € zur Verfügung; zur Mittelschicht zählt ein Single mit einem Einkommen von 1037 bis 2223 €, ebenso eine vierköpfige Familie mit 2178 bis 4668 €). Arm ist nach EU-Kriterien, wer weniger als 60% vom Median des NÄE zur Verfügung hat. Die deutsche Regierung betrachtet davon abweichend einen Bürger erst mit einem Einkommen unter 50% des NÄE als „relativ arm“ (so kann man das Faktum „Armut“ statistisch kleinrechnen) und ab 200% des Medians vom NÄE als reich. (Quelle: SOEP 1991 bis 2006, Relative Verteilung der Bevölkerung auf verschiedene Einkommensgruppen in Prozent, 1985 bis 2006, Bundeszentrale für politische Bildung, 2009 Lizenz: Creative Commons by-nc-nd/2.0/de; www.bpb.de/files/JYRIHO.pdf.)

Irritierend: Die Daten des SOEP passen nicht zu den Daten der Bundesbank: Diese geht davon aus, dass 2008 in Deutschland ein Finanzvermögen von 4,4 Billionen vorhanden war. Nur 34 % davon tauchten in den SOEP-Hochrechnungen auf. Für die restlichen Billionen fehlt jede genaue Erkenntnis, wem sie gehören. Es gilt eben immer noch: „Über Geld redet man nicht, Geld hat man.“

Nur 4,7% der Bevölkerung lebten mit mehr als 200% des NÄE in „höherem Wohlstand“. Eine korrekte Selbsteinschätzung hinsichtlich des eigenen Wohlstands ist somit nur den knapp 10% der Bevölkerung zu eigen, die im Jahr 2004 etwas über ein Drittel des Gesamteinkommens erzielte. Ein nicht unbeträchtliches Detail dazu: Das Statistische Bundesamt erfasst in der alle fünf Jahre wiederholten Einkommens- und Verbrauchsstichsprobe (EVS) keine Nettoeinkommen über 18000 € monatlich.

Wenn man das Wort Klassenbewusstsein benutzen möchte, dann verfügt darüber nur die Klasse der Spitzenverdiener: Selbstbild und Fremdbild stimmt überein. Die materielle Armut geht einher mit einem Mangel an Bewusstsein über die eigene Lage in Bezug auf die Gesamtheit, mit geistiger Armut. Armes Deutschland.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

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