Kulinarischer Voluntarismus vs Ernährungswahn

Boulevardisierung Was ist von einem "Plädoyer für mehr Genuss" zu halten, das mit einem Fastfood-Wurstbrötchen mit Senf- und Ketchup-Zickzack-Design illustriert ist?

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Der Freitag vom 2.4. 2015 bringt einen Beitrag von Jörn Kabisch, betitelt: "Esst, was ihr wollt. Gegen den Ernährungswahn: ein Plädoyer für mehr Genuss."

Bezogen auf eine Rücknahme des Cholesterin-Verbots, das amerikanische Ernährungsspezialisten vor einigen Wochen verkündet haben kritisiert Kabisch eine "hypertrophe Beschäftigung mit dem Thema Nahrung" und konstatiert, dass wir in einer "Zeit der totalen Nahrungsverunsicherung" lebten:

"Das Essen ist zum Feld der Sinnstiftung geworden, egal ob Gesundheit, Moral, Identität oder Weltverbesserung. Und niemand schreit Halt, wenn Hysteriker, Radikale, Ideologen und Quacksalber die Löffel von Hand in Hand reichen."

Es ist schade, dass die Fremdbestimmung, die in Gestalt der global agierenden Nahrungsmittelindustrie die konsumierenden Individuen und die Moden dominiert, fast gar nicht thematisiert wird.

Ein Aufruf, trotz "Nahrungsverunsicherung" zu essen, worauf man Gusto habe, setzt wohl voraus, dass es egal ist, wieviele echten oder künstlichen Geschmacksaromen konsumiert werden, woher das Nahrungs- oder Lebensmittel kommt, wo es gewachsen ist, wie verarbeitet es ist.

"Ohne Essen, ohne Genuß keine Existenz. Es [Feuerbachs Ausspruch: Der Mensch ist, was er isst.] war schlicht ein Plädoyer für den Bauch. Und damit etwas, das heute nötiger denn je ist. Mehr Bauch, weniger Kopf, mehr Sinnlichkeit, weniger Askese. Essen macht Spaß, ist keine Sünde, genauso wenig wie bloße Ernährung. Auch wenn das für jeden einigermaßen vernunftbegabten Menschen wie eine Selbstverständlichkeit klingt: Es muss mal gesagt sein. (...) Gebt dem Geschmack wieder eine Rolle in den Ernährungsdebatten. Das ist ein Aufruf an die Abstinenzler genauso wie an die Asketen, und nicht nur an die aus der veganen Ecke."

Ach, Herr Kabisch, ich wollte, sie hätten Recht. Geschmack muss sein, und zeigt das Titelbild zu Ihrem Beitrag das, was Sie für den Inbegriff von Geschmack halten?

Der Aufruf, zu essen, was man wolle, wäre gerichtet an ein Individuum im Sinne des Kant'schen Imperativs oder des Hölderlin'schen Diktums, dahin aufzubrechen, wohin man wolle nachzuvollziehen.

Wenn nicht geschrieben stände: "Erschrecken über die eigene Unkultur gehört mittlerweile schon zur fixen Dramaturgie des Katastrophen-Journalismus." (Georg Seeßlen, S. 13) hätte ich keinen Bezugspunkt, Sie zu fragen: Über welche Essens-Unkultur erschrecken Sie sich denn noch?

Sie mokieren sich über Asketen, Ideologen. Ist es nur mein Problem, dass ich über die Tischsitten von Zeitgenossen und dem Wissen, was sie essen, immer wieder nur kotzen könnte?

Wenn ich sehe, was in Krankenhäusern serviert wird, wo Menschen gesund werden wollen, aber die Ernährung keinen Beitrag dazu leistet, vor allem dann nicht, wenn aus dem Essen das herausgepickt wird, was den Filter der Geschmackserwartung passiert und der Rest als Abfall liegen bleibt?

Wie kommen Sie dazu, zu konstatieren, dass Essen keine Sünde ist? Mit Bert Brecht gesprochen:

"Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich."

Unwidersprochen, Essen und Zusammenkunft sind grundlegende Elemente des menschlichen Lebens.

Aber Ihr Plädoxer für die "reine Lust, das Prinzip: Esst doch was ihr wollt" ist eine hedonistische Verirrung, denn "der Mensch lebt nicht vom Brot allein" (Lukas, Kap. 4,4), auch wenn er Atheist ist.

Was schlagen Sie vor als Spielart eines politisch korrekten kulinarischen Voluntarismus?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

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