Medizinale Selbstüberschätzung – Gedenken an Ivan Illich

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Illich war Theologe und katholischer Priester, Autor, Philosoph, man sollte besser sagen: Zwar Katholik, aber vor allem Ketzer und Kritiker. Gestern wäre er 85 Jahre alt geworden.

Er verstand sich “weniger als objektiver Wissenschaftler, denn als ein der Befreiungstheologie nahestehender Intellektueller, welcher sowohl Fehlentwicklungen in der Ersten Welt als auch Missstände in der Dritten Welt anprangern wollte. In wirkungsreichen und stark polemischen Schriften kritisierte er die Praxis des schulischen Lernens und forderte eine Entschulung der Gesellschaft. Weitere Kritik richtete er gegen die moderne Medizin, deren Expertokratie zwar zur medikalisierten Mentalität der Gesellschaft passe, aber kranken Menschen oft nicht weiterhelfe. Vor allem in Ländern der „Dritten Welt“ würden die von Experten entworfenen Großsysteme des Bildungs- und des Gesundheitswesens oft mehr Schaden als Nutzen stiften. " (de.wikipedia.org/wiki/Illich)

Hontschik berichtet von einem Treffen mit Illich 1976, bei dem dieser vorrechnete: Wenn man ein Entwicklungsland wie damals China so verändern würde, “dass jeder Chinese jederzeit in den Genuss moderner Unfallchirurgie kommen könnte, etwa mit der Replantation abgetrennter Gliedmaßen … bräuchte [man] nicht nur flächendeckend und rund um die Uhr funktionierende Kommunikationssysteme und Rettungsdienste”. Illich rechnete vor, “wie viele Arbeiter bei der Produktion all der Telefone, Funkmasten, Notarztwagen, Hubschrauber, Autobahnen, Flugplätze und der modernen unfallchirurgischen Krankenhäuser ums Leben kommen würden: mehr, als man jemals würde retten können. So hatten wir das noch nie betrachtet. Wir waren verblüfft.” (FR vom 3./4. 2011)

Als bescheidenes persönliches Fazit über dreißig Jahre später bekennt Hontschik: “Ich habe in meiner über 30jährigen chirurgischen Tätigkeit vielleicht zehn Menschen das Leben gerettet. In unseren Krankenhäusern sterben aber jedes Jahr über 30000 Patienten an 'hausgemachten' Infektionen. Da muss man doch ins Grübeln kommen. “ (ebd.)

Illichs Kritik an der modernen Medizin, “deren Expertokratie zwar zur medikalisierten Mentalität der Gesellschaft passe, aber kranken Menschen oft nicht weiterhelfe” und “vor allem in Ländern der „Dritten Welt“ (…) oft mehr Schaden als Nutzen” (de.wikipedia.org/wiki/Illich) bewirke, ist ein Denkansatz, der in der heutigen zur Agglomeration von Renditeobjekten verunstalteten Krankheitsversorgungsindustrie tabuisiert ist.

Nötig ist diese Kritik, auch wenn vor allem die Kritisierten es nicht einsehen.

Literatur:

1975: Die Enteignung der Gesundheit – Medical Nemesis -. Rowohlt, Reinbek.

1980: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Rowohlt, Reinbek. (Übersetzt von Thomas Lindquist. Originaltitel: Tools for Conviviality. Harper and Row, New York 1973.)

1981: Die Nemesis der Medizin. Von den Grenzen des Gesundheitswesens.

1991: Was macht den Menschen krank? 18 kritische Analysen.

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Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

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