Psychosomatik in der spezialisierten Medizin Teil 3

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Psychoanalyse und Sinnkrise:

Auf die Frage “Verliert die Psychoanalyse an Bedeutung?” antwortete der slowenische Philosoph Slavoj Žižek: “Einmal saß ich mit 25 Psychoanalytikern zusammen und habe gefragt, wer “Prozac”, “Zoloft” oder andere Antidepressiva nimmt. Bis auf einen haben alle die Hand gehoben. In den USA nehmen angeblich 20 bis 30 Prozent aller Erwachsenen Psychopharmaka - und 80 Prozent der Akademiker.” 1

Die Wichtigkeit und Bedeutung der Psychoanalyse sieht Žižek darin, dass es ein “Niveau der Identität” gebe, das nur durch die Psychoanalyse berührt werde. Sie sei darüber hinaus “die einzige Therapieform mit philosophischem Hintergrund”, eine “Weltanschauung” und “Welterfahrung”. Freuds Technik der “Übertragung” sei eine philoso­phi­sche Form der Betrachtung, die nach Helmut Dahmer Hegels Logik der Selbstreflexion weiter am Leben erhalte. “Psychopathologische Phänomene sind überdies ein Weg, um zu verstehen, wie die Gesellschaft funktioniert.” Das besonders Revolutionäre an Freud sei, dass seine Definition das Unbewusste als “rational und leidenschaftslos” be­trachte, es habe sowohl eine logische Struktur als auch (wie der Französische Psychoanalytiker Jacques Lacan ge­zeigt habe) eine “symbolische Struktur”. Darüber hinaus stehe Freud in enger Beziehung zu Karl Marx’ Theorie des Warenfetischismus: “ Wir denken, Waren sind nur Dinge, und realisieren nicht, wie sie uns beherrschen. Sie sind also eine versachlichte Illusion. Das ist Freuds Unbewusstes!”

Dieses Beispiel legt nahe, dass die Psychoanalyse mittlerweile anscheinend auch das Ziel verfehlt, „dem Einzelnen [zu ] helfen, zum völlig angepassten Organisationsmenschen zu werden“ 2 wie Fromm noch kritisierte und auf die Supplementierung von pharmazeutischen Drogen angewiesen ist, um ihre Ineffizienz sowohl im Sinne Freuds als auch Fromms zu verschleiern.

Das von Žižek apostrophierte „Freudsche Unbewusste“ mit seiner logischen und symbolischen Struktur wird von Erich Fromm klarer benannt:

Verblüffenderweise wird trotz der Verbreitung der Freud'schen Theorien seine Vorstellung des Unbewußten nur selten (...) auf emotionale Erscheinungen [wie Glück, Angst, Depression, Langeweile und Haß] angewandt. Es gibt vermutlich zwei Hauptgründe für diese Tatsache: (...) In den Schriften einiger Psychoanalytiker (...) [wird] das gesamte Phänomen des Unbewußten – und das heißt: der Repression [von Gefühlen] – allein auf die sexuellen Begierden [bezogen]; sie benutzen also das Wort Repression fälschlich als Synonym für UNTERDRÜCKUNG VON SEXUELLEN WÜNSCHEN UND HANDLUNGEN und nehmen damit den Entdeckungen Freuds einige ihrer bedeutsamsten Konse-quenzen". [Zweitens beunruhigt] es die viktorianische Gesellschaft weit weniger (...), sich zurückgedrängte sexuelle Begierden bewusst zu machen, als Erfahr-ungen wie Entfremdung, Hoffnungslosigkeit oder Habgier. [...) Die meisten Menschen gestehen sich selbst nicht ein, dass sie Furcht, Langeweile, Einsamkeit oder Hoffnungslosigkeit empfinden, diese Gefühle bleiben ihnen unbewusst.“ 3

So hat Fromm auch eine dezidiertere Auffassung hinsichtlich der zentralen Disposition des modernen Menschen zur Erkrankung: „Die Entfremdung als eine Erkrankung des Selbst kann man auch als Kern der psychischen Krankheit des modernen Menschen betrachten... (...) Nicht nur sind alle Formen von Depres-sion, von Abhängigkeit und Ido­latrie (ein­schließlich der des „Fanatikers“) ein direkter Ausdruck oder Kompen­sationen der Entfremdung; auch die Unf­ähigkeit, seine eigene Identität zu erleben – das Kernproblem aller psycho­pathologischen Phänomene – ist eine Folg­e der Ent­frem­dung. Eben weil der entfremdete Mensch seine eigenen Funktionen des Fühlens und Denkens auf ein Objekt außerhalb seiner selbst übertragen hat, kennt er kein Gespür für sich sich selbst, keine Identität. (...) Die wichtigste und allgemeinste [Folge] ist die, dass die Integration der Gesamt­persönlichkeit verhindert wird. (..) Wenn man Ent­fremdung als ein pathologisches Phänomen betrachtet, sollte man nicht vergessen, dass Hegel und Marx in ihr ein notwendiges Phänomen sahen, das zur menschlichen Entwicklung gehört. Dies gilt sowohl für die Entfremdung der Vernunft wie für die Liebe. (...) Der Mensch muss sich entfremden, um diese Spaltung in der Tätig­keit seiner Ver­nunft zu überwinden. Das gleiche gilt auch für die Liebe. (...) Die Liebe setzt Entfremdung voraus und überwindet sie zugleich.“ 4

Fromms Wirklichkeitssicht, sein Menschenbild und seine Philosophie kommen in folgenden Zitaten unter psycho­hy­gienischen Gesichtspunkten explizit zum Ausdruck: "Der Mensch hat ein Herz und einen Körper, die gefühlsmäßig an die Welt gebunden werden wollen – an den Menschen und an die Natur; [sein Verstand] braucht (...) einen Orient­ierungs­rahmen, der ihm gestattet, in der umgebenden Welt einen Sinn zu erkennen und sie zu struk­turieren.(...) Wer keine solchen Bedingungen besitzt, ist per definitionem geisteskrank, nämlich unfähig, irgendwelche Gefühls­bezieh­ungen zu seinen Mitmenschen zu erfahren." 5

"Das Ideal der Brüderlichkeit [...] ist die einzige Bindung, die zwei Bedürfnisse des Menschen befriedigt: sich eng verbunden zu fühlen und gleichzeitig frei zu sein."6

"Seine Gier zu überwinden, seinen Nächsten zu lieben und die Wahrheit zu erkennen ( im Gegensatz zur unkritischen Kenntnis der Tatsachen) – diese Ziele sind allen humanistischen Philosophien und Religionen des Westens und Ostens gemeinsam. " 7

In diesem Punkt deckt sich Fromms Erfahrung mit der von Viktor Frankl, der die Sinnkrise als „noogene Neurose“ bezeichnete und es als Aufgabe der Psychoana-lyse sah, eine „Rehumanisierung der Medizin“ zu bewirken, statt die Sinnfrage „wegzuanalysieren oder wegzutranquilisieren“ und eine „Pseudotherapie“ zu betreiben.8

Meine Schlussfolgerung daraus ist: Mag vor 100 Jahren die Existenz des Unbewussten an sich neu und auf­regend, die Wichtigkeit der daraus zu entnehmenden Impulse wie elektrisierend für die eigene Weiter­entwicklung gewesen sein, so ist heute eher von Bedeutung, dass vielen Patienten klar ist, das es das Unbewusste gibt, sie jedoch davor zurückscheuen, dem Unbewussten mehr Bedeutung einzuräumen oder aber die Kommunikation mit dem Unbewussten gestört ist, weil das Bewusstsein, vor allem in Gestalt des Ratio­nali­täts­prinzips als „kategorischer Imperativ“ das Gesellschaftsleben und auch das “Funktionieren” des Indivi­duums beherrscht. Wenn diese Tatsache auch verdrängt wird, ist sie doch konstituierend für heutiges psychisches Leiden und zeigt sich u. a. auch an der Ablehnung von psychotherapeutischen Methoden an sich.

Das Fehlen eines Lebenssinnes, auf eine Zukunft hin, die als lebenswert erachtet wird, wäre für Freud und seine Zeitgenossen undenkbar gewesen. Jedoch schon Fromm konstatierte in den 50er Jahren bei seinem Patienten­klientel, dass genau dies als Krankheitsverursacher wirkte. Wir erinnern jedoch, in welchem Maße Zukunftshoffnungen im 20. Jahrhundert zuschanden gemacht wurden, zu welchen Monstrositäten politische Führer und aufgehetzte Volksgruppen auf allen Kontinenten fähig waren und sind. Die Menschheit ist darauf zurückgeworfen, dass die Welt nur dadurch verbessert werden kann, dass jeder bei sich selbst anfängt.

Dies begründet, warum psychologische Sichtweisen gerade heute immer noch ihre Berech­ti­gung haben. Allerdings leidet die Psychologie immer noch unter den Folgen einer weltanschaulich begründeten Dichotomie, die sich auf die erkenntnis-theoretischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts zurückführen läßt.9 Dies steht im Widerspruch zum Alltagsempfinden großer Tei­le der Bevölkerung und wurde von László Mérö so benannt:

"Das Alltagsdenken der Menschen ist holistisch und nicht reduktionistisch. Wir sehen sofort eine Kathedrale, nicht einzelne Steine; (..) Auch das Denken der Psychologie ist traditionsgemäß holistisch. (...) Erst etwa Mitte des 19. Jahr-hunderts kam die Psychologie an den Punkt, an dem sie ihren Forschungs-gegenstand begrifflich so fassen konnte, wie es die Naturwissenschaften tun. (...) In der Denkweise der Psychologie existieren diese beiden Ansätze bis heute nebeneinander: Einerseits ist die Psychologie eine einheitliche, umfassende philosophische Wissenschaft mit einem holistischen System der Kognition, andererseits ist sie ein Zweig der reduktionistischen Naturwissenschaft, die ihre Theorien auf strenge Experimente und sorgfältig kontrollierte Teilergebnisse gründet. Die beiden Einstellungen sind innerhalb eines einzigen Paradigmas unvereinbar, deshalb haben sich unterschiedliche psychologische Schulen herausgebildet.“10

Unverständnis erfährt die imer weiter ausdifferenzierte Psychoanalyse auch durch die Vielfalt der Richtungen, eine Entwicklungsergebnis, das Margarete Mitscher-lich äußerst diplomatisch mit den Worten kommentierte: [Es] haben sich innerhalb der Psychoanalyse neue Richtungen gebildet, die hier und da zu einer babyloni-schen Sprachverwirrung führten.“ 11

Gibt es brauch­bare Ansätze, die sowohl dem holistischen Paradigma als auch dem Anspruch einer rational begründeten Naturwissenschaft gerecht werden?

1Possemeyer, I. Und Unruh, R.: „Wir denken, wir seien frei – aber weiss das auch unser Unbe-wusstes?“ In: Geo 05/2006, S. 162- 164; Diese Mitteilung gewinnt im Lichte neuerer Studien an Brisanz, welche belegen, dass der Effekt beliebter Antidepressiva wie Prozac nicht besser ist als der einer Placebogabe. 2 Fromm (1981): jenseits der Illusionen, Rowohlt Reinbek, S. 128 3Fromm, E. (1974) : Die Revolution der Hoffnung - Für eine humanisierte Technik, Rowohlt, Reinbek, S. 17 4 Fromm, E.: Jenseits der Illusionen, S. 51, 54f 5 Fromm, E. (1974): S. 59 6 Ebd., S. 60 7 Ebd., S. 78; 8 Frankl (2007), Ärztliche Seelsorge, dtv München, S. 24 9 Vgl. Gloy, Karen (1996): Das Verständnis der Natur – Die Geschichte des ganzheitlichen Denkens. C.H.Beck Verlag, München. 10 Mérö, László (2002): Die Grenzen der Vernunft, Rowohlt, Reinbek, S. 82 11Mitscherlich , Margarete (2010): Die Radikalität des Alters. Einsichten einer Psychoanalytikerin, Fischer, Frankfurt/M., S. 207.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

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