Patienten als Versuchskaninchen

Schrott im Körper - Ein Beitrag von Herbert Stelz aus der Dreimonatszeitschrift BIG Business Crime, Ausgabe 03/2013

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Wenn Sie, liebe Leser, ein fehlerhaftes Produkt oder eine mangelhafte Dienstleistung geliefert bekommen, dann beauftragen Sie diesen Lieferanten wahrscheinlich nicht mehr. Anders in einem unserer größten Wirtschaftsbereiche, unserem Medizinbetrieb. Jede zweite Röntgenuntersuchung bringt kein richtiges Ergebnis. Konsequenzen: keine. Jede vierte Diagnose stellt sich im Nachhinein als falsch heraus, sagen Pathologen. Konsequenzen: keine.

Welche andere Branche kann sich eigentlich solche Fehlerquoten leisten und – wer bezahlt das? Wir, mit unseren Kassenbeiträgen. Konsequenzen: keine.

Wie aktuell das Thema ist, zeigt folgender Vorgang, veröffentlicht vor wenigen Monaten: Mit einem geradezu plumpen Täuschungsmanöver legten Reporter des hoch angesehenen British Medical Journal und der Zeitung Daily Telegraph die massiven Schwächen des derzeitigen Zulassungs- und Kontrollsystems für Medizinprodukte in der EU bloß. Sie gaben sich als Hersteller künstlicher Hüftgelenke aus und gaben vor, eine Zulassung dafür beantragen zu wollen. Doch das Implantat mit dem Phantasienamen "Changi TMH" gab es überhaupt nicht.

Auf dem Papier jedoch war es ausgerechnet dem Typ Hüftgelenk der US-Firma DePuy nachempfunden, das wegen ungewöhnlich hoher Versagensrate vor nicht langer Zeit aus dem Markt genommen werden musste. Zu diesem Fall komme ich später noch einmal. Aus den Unterlagen zu dem Produktfake ging zudem hervor, dass dieses giftige Metallionen absonderte und dass die Hüftpfanne leicht brechen könne.

Die Reporter reichten diese problembeladenen gefälschten Papiere bei 14 Zertifizierungsstellen, auch "Benannte Stellen" genannt, in 5 EU-Ländern ein und erhielten prompt nach kurzer Zeit die vorläufige Zustimmung für die Zulassung für ganz Europa.

Ein Vertreter der tschechischen Benannten Stelle ITC sagte den Reportern ins Mikrofon, dass seine Institution "auf der Seite der Hersteller und ihrer Produkte" sei, "nicht auf Seiten der Patienten". Ein Mitarbeiter einer anderen riet den vorgeblichen Herstellern, sie sollten sich erkundigen, "wer am besten für die eigenen Interessen" sei. Der Vertreter einer Stelle in der Slowakei bot an, das problematische Implantat "schnell durchzuwinken" und dabei auch "Grenzen zu überschreiten".

Der Skandal macht deutlich, worum es geht. Etwa 80 meist privatwirtschaftlich orientierte "Benannte Stellen" in Europa stehen miteinander im Wettbewerb um die Zertifizierung von etwa 500.000 Medizinprodukten. Die Verfahren sind reine Papierverfahren, bei denen lediglich die von den Herstellern eingereichten Unterlagen überprüft werden. Kosten zwischen 4.000 und 50.000 Euro.

Die Prüfer wetteifern um einen Kuchen von mehr als zwei, wahrscheinlich sogar noch mehr Milliarden Euro. Die Verantwortung für Qualität und Sicherheit der Produkte liegt dabei im Wesentlichen bei den Herstellern, die sich die Prüfer zudem aussuchen können. Eine türkische Prüfstelle fragte die britischen Reporter, die sich als Hersteller ausgaben: "Sucht ihr die Besten oder die Schnellsten?"

Medizinprodukte sollen der Versorgung kranker Menschen dienen. Dabei sollte eigentlich ausgeschlossen sein, dass diese Produkte ausgerechnet diese Menschen schädigen, denen sie eigentlich helfen sollen. Leider müssen wir feststellen, dass häufig das Gegenteil der Fall ist. Medizinprodukte werden aus rein profitorientierten Gründen in den Markt gedrückt, häufig ohne auseichend auf ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit hin geprüft worden zu sein. Dabei rühmt sich gerade dieser Wirtschaftszweig einer besonders großen Innovationskraft.

Rund ein Drittel ihres Umsatzes erzielen die deutschen Medizintechnikhersteller mit Produkten, die weniger als drei Jahre alt, also wenig erprobt sind. Und da sind wir bei einem der wesentlichen Probleme.

Wir sind beim Widerspruch zwischen den Interessen eines profitorientierten und extrem wettbewerbsorientierten Industriezweigs einerseits und der sozialstaatlich orientierten Aufgabe, Kranke mit einem Optimum an nachhaltig, sprich dauerhaft hilfreichen Produkten zu versorgen.

Ich bin weder Mediziner, noch Biologe, noch Physiker, noch Techniker. Ich bin Journalist mit politischer und ökonomischer Vorbildung. Und so werde ich Ihnen das Problem anhand dreier Problembereiche, man kann auch sagen, Medizinprodukte-Skandale, beschreiben. Durch die Brille eines Fernsehjournalisten, dessen Kunden – oder sagen wir Auftraggeber – die Zuschauer sind und deren Interessen wir – zumindest im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – zu vertreten haben, indem wir uns per Staatsvertrag der Aufklärung verpflichtet haben. Und darum wird unsere Arbeit aus gutem Grund aus Gebühren finanziert, auch um zu vermeiden, dass ökonomisch geleitete Interessen von Werbekunden auf die Arbeit der Journalisten durchschlagen.

Und vermutlich deswegen sehen Sie solche Filme auch so selten im privaten, werbefinanzierten Fernsehen.

Beispiel 1: Der Robodoc-Skandal

Im Frühjahr 2003 wurde ich durch einen Spiegel-Artikel auf eine Initiative von Patienten aufmerksam, die soeben begonnen hatte, in der ganzen Republik nach Opfern einer neuen Operationsmethode zu suchen, der "Methode Robodoc".

Robodoc war ein umgebauter computergesteuerter Roboter aus der amerikanischen Autoindustrie, mit dessen Hilfe nun beim Menschen künstliche Hüftgelenke implantiert wurden. Angeblich, so die offensive Werbung der bei dieser sogenannten Innovation führenden Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Frankfurt, könne mit Hilfe des Robodoc das Loch für das künstliche Hüftgelenk viel passgenauer in den menschlichen Knochen gefräst werden, als bei der herkömmlichen Handmethode.

2003 habe ich für das Fernseh-Politikmagazin MONITOR in der ARD einen Film über den Robodoc und die Opfer der Methode gemacht (leider nicht online abrufbar). Es sollte eine Recherche werden, die sich über mehr als zwei Jahre hinzog, zu der ich 16 Filmbeiträge produzierte und die im Grunde heute noch nicht zu Ende ist.

Das Ergebnis sah dann mitunter so aus, wie bei Erna-Maria Götz aus Bad Krotzingen: "Hier, das war mal mein Muskel", sagt sie und zeigt auf einen handtellergroßen Gewebebeutel an ihrem Schenkel. "Den brauche ich zum Gehen. Aber der ist einfach quer durchschnitten. Was hier hängt", sagt sie, "sind die anderen Muskeln – unbrauchbar. Dies ist das Ergebnis von Robodoc."

Seit der Operation hinkt Frau Götz, braucht eine Krücke. "So, wie ich hier gehe", sagt sie, "das ist das Börner-Hinken. Ich kenne zwischen 50 und 80 Leuten, die so laufen, alle wie ich, wir erkennen uns schon auf der Straße." Später lernte sie noch viel mehr Leidensgenossen kennen.

Frau Götz spricht vom "Börner-Hinken". Prof. Martin Börner war zu jener Zeit der Ärztliche Direktor der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik, auch BGU genannt. Börner war der große Propagandist für den Robodoc. Wo er nur konnte, bewarb er die angeblichen Vorzüge dieser neuen Methode. Er bescherte der BGU Tausende neuer Patienten, insgesamt will er 6.000 Menschen mit dem Robodoc operiert haben.

Alleine in seiner Klinik gab es am Ende drei Robodocs, Stückpreis etwa eine halbe Million Euro. Bundesweit gab es etwa 60 Robodocs, mit denen nach Angaben Börners etwa 10.000 Patienten operiert wurden.

Nahezu alle Robodoc-Geschädigten hatten das spezielle sogenannte "Börner-Hinken" gemeinsam und vor allem hatten sie alle starke Schmerzen.

Professor Börner hingegen erklärte im Monitor-Interview im Brustton der Überzeugung, es gebe keinerlei Robodoc-spezifische Komplikationen. Den Patienten, die sich in zunehmender Zahl beschwerten, wurde gesagt, sie sollten sich gedulden, die Schmerzen würden verschwinden, die Prothesen seien alle in Ordnung.

Ich recherchierte weiter. An der Frankfurter Orthopädischen Uniklinik Friedrichsheim traf ich Professor Ludwig Zichner. Er hatte bereits zahlreiche Robodoc-Opfer nachoperiert. Und so konnte er auch den Grund für das Hinken und die Schmerzen erklären. Der Robodoc an sich arbeitete in der Regel einwandfrei, wenn er richtig programmiert wurde. Das Problem war laut Zichner, dass der Robodoc deutlich mehr Platz brauchte, um seine Arbeit zu machen.

Dafür mussten mehr Muskeln und damit Nerven vom Knochen abgetrennt werden. Die Muskeln wuchsen später nicht mehr richtig an, die Nerven blieben durchtrennt. Es kam offenbar auch vor, wie Zichner es im Chirurgendeutsch drastisch ausdrückte, dass Muskeln und Nerven "in die Kollekte" kamen, sprich, sie wurden einfach weggefräst.

Ich fand einen weiteren Kritiker, an der Universitätsklinik Halle. Deren Robodoc stand schon zu der Zeit längst auf dem Gerätefriedhof. Nach 39 Operationen hatte die Klinik in Halle bereits eine Komplikationsrate von 25%, die auf die Methode zurückzuführen war.

Prof. Hein zog die Konsequenz und mottete den Robodoc ein. Sein Fazit: "Aufhören mit dem Robodoc am Hüftgelenk. Er bringt keine Vorteile."

Auch Erna-Maria Götz brauchte einige Zeit, bis ihr klar wurde, dass ihr zwei Muskeln und zwei Nerven fehlten, dass sie behindert ist. Seitdem sammelte sie Geschädigte, über Zeitungsanzeigen. Ihr und ihrem Anwalt fielen Unterlagen in die Hände, aus denen hervorging, dass rund 800 der tatsächlich 5000 in Frankfurt Operierten schwer geschädigt waren, mehr als jeder sechste.

Frau Götz sagt: "Robodoc-Opfer sind Menschen, die schon morgens, wenn sie aufstehen, Schmerzen haben, es sind verzweifelte Menschen."

Ohne Frau Götz würden viele Geschädigte heute noch denken, sie seien ein Einzelfall. Erst der Austausch mit den anderen machte ihr deutlich, dass sich hier wohl ein medizinischer Großschaden auftat. Deshalb versuchte sie, auch ihre Krankenkasse für den Robodoc zu interessieren. "Ich hab damals noch geglaubt, die Krankenkasse kann ja niemals zulassen, dass man die Leute behindert operiert." Sie sammelte DAK-versicherte Schicksalsgenossen und meldete die der Kasse. Doch die DAK, sagt sie "hat das überhaupt nicht interessiert."

Ich konfrontierte den für die Klinik zuständigen DAK-Geschäftsführer in Frankfurt mit den Fällen. Daraufhin räumte der ein, dass die Kasse die Dimensionen bisher falsch eingeschätzt habe.

Willi Leber von der DAK gab zu, dass sie erst durch die Fragen von Monitor darauf gekommen seien, dass es sich bei Robodoc um einen, wie er es nannte, "Flächenbrand" handelte.

Eigentlich müssen die Kassen sich von Gesetzes wegen die Kosten für Fehlbehandlungen von den Verursachern zurückholen. Das regelt der § 116, SGB X. Zusätzlich, argumentierte ich in meinem Film, könnten sie ja auch Frau Götz und die anderen Geschädigten unterstützen (§ 66, SGB V). Denn die wollten nun auch juristisch geklärt wissen, dass die Schädigungen den Robo-Doktoren anzulasten sind. Doch zunächst mussten sie wie so oft jeder für sich alleine vor Gericht ziehen.

Der Freiburger Rechtsanwalt Jochen Grund führte etwa 140 Verfahren vor den verschiedensten Gerichten, vor allem in Frankfurt.

Er sagte schon damals: "Die Kassen müssten die Geschädigten unterstützen im Bereich der gutachtlichen Aufklärung, und sie müssten auch durch ihre Macht, durch ihren Verhandlungsdruck, ganz rechtzeitig erkennbar machen, auf welcher Seite sie stehen."

Dieses Argument wiederholten wir in etlichen weiteren Berichten. Mehrere Kassen meldeten sich bei Grund und schließlich gelang es, die Kassen zu einem wesentlichen Schritt zu bewegen, der dann sehr plötzlich dazu führte, dass der Robodoc-Hype in der ganzen Republik kippte. Auf Antrag der Barmer Ersatzkasse erstellte der MDS, der Medizinische Dienst der Spitzenorganisationen der Kassen, ein Grundsatzgutachten zu "Computerunterstützten Fräsverfahren bei Hüftgelenksoperationen". Diese Ereignisse sind in einem Film beschrieben, der im ARD-Wirtschaftsmagazin "Plusminus", rund sieben Monate nach der Ausstrahlung des Monitor-Films, ausgestrahlt wurde. Übrigens hatte die Frankfurter BGU-Klinik die Anwendung ihrer drei Robodocs kurz vorher bereits ausgesetzt, die Geräte standen still.

Noch am Tag der Ausstrahlung dieses Films beeilte sich die zuständige Bundesbehörde, das BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte), mit Bezug auf das MDS-Gutachten wenigstens eine wachsweiche Warnung ins Internet zu stellen.

Das Robodoc-Verfahren solle nun nur noch unter strenger Indikationsstellung angewendet werden. Eingedeutscht war da zu lesen, dass die Anwender sich in Zukunft für die Folgen der Anwendung des Robodoc zu verantworten hätten. In der Folge wurden alle rund 60 Robodocs in Deutschland sehr bald stillgelegt. Die Schäden bei den Patienten aber waren nicht mehr gut zu machen. Noch heute prozessieren viele Geschädigte um wenigstens eine finanzielle Entschädigung. Die Urteile fallen je nach Gericht unterschiedlich aus. Etliche haben sich mit lächerlichen Vergleichssummen in mittlerer fünfstelliger Höhe abfinden lassen. Sie hatten keine Kraft mehr. Jenseits der 100 Vergleiche ist noch keines der jetzt noch anhängigen Verfahren – 75 Klagen von Geschädigten, 32 Klagen der Barmer GEK auf Schadensersatz – rechtskräftig entschieden.

Bei den Prozessen geht es im Wesentlichen um zwei Fragen: War die Anwendung der nicht erprobten und unausgereiften Robodoc-Methode ein Behandlungsfehler? Die zweite Frage lautet: Wurde mit der Methode im Grunde eine großangelegte Studie durchgeführt und wurden die Patienten adäquat auch über die Risiken informiert? Bisher sehen die Gerichte das unterschiedlich. Das nächste Revisionsverfahren vor einem Oberlandesgericht dürfte mehr Klarheit bringen. Nicht auszuschließen ist, dass das Ganze bis zum Bundesgerichtshof führt.

Nahezu geschlossen wehren sich die beteiligten Ärzte vor Gericht gegen alle Vorwürfe. Auch Professor Börner, längst als Chefmediziner der BGU entlassen, verteidigt vehement weiter seine Methode. Bereits im Sommer 2005 tauchte er wieder als Medizinischer Direktor eines "German Care High Medical Centre" auf, in der "Khalid Bin Al Waleed Rd." in Dubai. Wortgewaltig priesen sich die deutschen Doktoren im Internet an: "Unser Team ist exzellent qualifiziert und spezialisiert".

Prof. Börner erklärte sich dabei zum Spezialisten u. a. für "Endoprotetic für Knie- und Hüftgelenke" sowie allen Ernstes für "Computergesteuerte Chirurgie". Dieses medizinische Abenteuer allerdings dauerte offenbar nicht lange. Wenig später, nachdem ich diese neue Aktivität des Herrn Börner in der "Hessenschau" veröffentlicht hatte, sprach er mich erbost auf einem Gerichtsflur an. Die Unternehmung sei längst beendet, ich solle das nicht weiter berichten. Wo Börner, der längst im Rentenalter ist, nun noch seine Dienste am Patienten anbietet, ist unbekannt.

Das unterschiedliche Vorgehen der Gerichte ist schwer verständlich. Der Wiesbadener Radiologe Dr. Peter Grebe hat mehr als 150 Robodoc-Patienten mittels MRT untersucht. "Die Robodoc-operierten Hüften", sagt Grebe, "zeigten alle erheblich ausgedehntere Muskelschäden als die konventionell operierten und es zeigte sich auch, dass zum Teil auch Muskeln mit betroffen waren, die bei konventionell operierten Hüften nie geschädigt werden." Seine Ergebnisse hat Grebe in einem Gutachten zusammengefasst, das die Opfer in die Verhandlungen vor Gericht eingebracht haben.

Doch die Richter zeigen sich nur bedingt beeindruckt. Am Beispiel einer Patientin, deren eine Hüfte konventionell, die andere mit Robodoc operiert wurde, wird Grebe noch deutlicher: "Man sieht, dass die Muskulatur sehr unterschiedlich geschädigt ist, der wesentliche Muskel ist auf dieser Seite praktisch erhalten. Während er auf der anderen Seite weitgehend zerstört ist und durch Fettgewebe ersetzt wurde." Doch es gibt auch etliche andere Gutachter, die besondere Schäden durch die Robodoc-Methode verneinen oder nicht anerkennen wollen, dass es sich um eine Neulandmethode mit besonderer Aufklärungspflicht gehandelt hat.

Auch die Frankfurter Staatsanwaltschaft ermittelt seit Jahren, ist doch mittlerweile klar geworden, dass Geld vom Hersteller des Robodoc eine wesentliche Rolle in dem Skandal spielte. Mittlerweile ist ein 20-seitiger Vertrag zwischen dem Hersteller und der Frankfurter BGU-Klinik aufgetaucht, in dem haarklein geregelt wird, welche Studien die Klinik im Auftrag des Herstellers zu erstellen habe. Die Passagen, in denen die finanzielle Vergütung für diese Leistungen geregelt wird, sind leider geschwärzt.

Vieles deutet darauf hin, dass das große Engagement der Anwender für den Robodoc bestens vergütet wurde, dass die Robodoc-Opfer rechtswidrig als Versuchskaninchen missbraucht worden sein könnten, um wissenschaftliche Daten zu liefern, mit denen der Hersteller endlich die Zulassung auch in seinem Heimatland USA erhalten sollte.

Wie in so vielen Bereichen unseres Medizinbetriebs ging es auch beim Robodoc vor allem um Geld und Profit. Eigentlich ist die Frankfurter BGU eine klassische Unfallklinik mit fest stationiertem Rettungshubschrauber auf dem Dachlandeplatz. Hüftendoprothetik gehört eigentlich nicht zwingend zu den Aufgaben einer Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik. Doch die Vorreiterrolle der Frankfurter BGU beim Einsatz des Robodocs brachte dieser zunächst eine Vervielfachung der Patientenzahlen und damit eine bis dahin nicht gekannten Steigerung der Einnahmen. Was einzelne Ärzte und Professor Börner darüber hinaus möglicherweise an sogenannten "Kickbacks" erhielten, damit sie diese Methode gegen alle Zweifel und Widerstände der Fachwelt implementierten, muss die Staatsanwaltschaft klären.

Und es gab erhebliche Widerstände. Die benachbarte Frankfurter Uniklinik wie auch das Städtische Krankenhaus Höchst entschieden sich dezidiert gegen den Einsatz des Robodocs und nahmen damit einen deutlichen Wettbewerbsnachteil in Kauf.

Im Mai 1999, gut fünf Jahre nach dem ersten Robodoc-Einsatz in Frankfurt, organisierte die Arbeitsgemeinschaft Endoprothetik (AE) wegen erster Meldungen von unerwünschten Nebenwirkungen wie Hinken nach der OP eine sogenannte Konsensuskonferenz in einem Luxushotel im Allgäu.

Der AE gehörten leitende Orthopäden und Unfallchirurgen wie Dr. Ute Maronna an, Chefärztin im Städtischen Klinikum Frankfurt Höchst. In diesem fachlich ausgewiesenen Gremium waren die Kritiker deutlich in der Mehrheit. Ergebnis: Ein Nachweis von vorteilhaften klinischen Resultaten für Operationsroboter sei bisher nicht erbracht worden. Die Erwartung, dass robotergefräster Hüftersatz länger halte als konventionell eingesetzter, sei bisher nicht bestätigt worden. Marktinteressen widersprächen zuweilen dem Patientenwohl.

Diese Ergebnisse sollten zwei Monate später in München der Presse vorgestellt werden. Obwohl das eine Veranstaltung nur für Journalisten war, reiste Professor Börner mit großer Entourage an und sprengte lautstark die Veranstaltung. Die übrigen ärztlichen Teilnehmer waren perplex, die Journalisten völlig verwirrt. Der Robodoc konnte seinen auch medialen Triumphzug fortsetzen, die zahlreichen Kritiker wurden mundtot gemacht, die Patientennachfrage mit gezielter Pressearbeit stimuliert. In der Folge erschienen zahlreiche Jubelartikel und unkritische Fernsehberichte, so dass auch etwa Willy Sauer aus dem Filmbeispiel der festen Überzeugung war, er bekomme "den Mercedes" unter den Hüftprothesen.

In der Folge dieses Börner-Coups gelang es den Kritikern nicht mehr, ihrer Position öffentliches Gehör zu verschaffen, was ein bezeichnendes Licht auf unseren Medizinbetrieb wirft. Kritische Stimmen werden niedergemacht, aber sie lassen sich auch niedermachen, offenbar aus Angst vor schlechter Presse und deren Folge in der Laienwelt.

Erst die Selbstorganisation der Patienten in der Initiative Robodoc von Erna-Maria Götz und eine seit 2003 durch "Spiegel" und ARD sensibilisierte Öffentlichkeit vermochten es, den unheilvollen Siegeszug des Robodoc zu stoppen. Letztlich war es der dauernde Druck in den zahlreichen kritischen ARD-Berichten auf die Krankenkassen, der zur Erstellung des Grundsatzgutachtens durch den Medizinischen Dienst der Spitzenorganisation der Krankenkassen (MDS) führte.

Am Tag der Veröffentlichung dieses Gutachtens reagierte endlich auch die eigentlich zuständige Bundesbehörde, das BfArM, mit einer warnenden Stellungnahme. Erst daraufhin verbannten die meisten Kliniken ihre Robodocs auf den Gerätefriedhof. Weder der Medizinbetrieb selbst hatte trotz aller Kritik an der Methode die Kraft, diese zu Fall zu bringen, noch die zuständigen Behörden, von der hessischen Gesundheitsministerin ganz abgesehen. Sie erklärte sich auch später im hessischen Landtag in allen entscheidenden Fragen für unzuständig.

Beispiel 2: Lebensgefahr Herzschrittmacher

Am 31. Mai 2007 strahlte das Magazin Monitor einen Bericht von mir aus, der sich mit dem Problem des Rückrufs defekter Medizinprodukte befasste. Man stelle sich vor, der Hersteller Ihres Autos findet heraus, dass von 40.000 Wagen aus einer Serie bei vier Autos die Bremsen versagt haben. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls ist also 0,01 Prozent. Sagt man, das Risiko stört mich nicht oder erwartet man, dass der Hersteller alle 40.000 zurückruft und die Bremsen überprüft oder austauscht? Eben, man will ja nicht zu den vier Risikokandidaten gehören. Nun stelle man sich vor, nicht vier Autos sind defekt, sondern vier Herzschrittmacher. Und man trägt einen aus dieser Serie. Beunruhigend? Fand Monitor auch.

Irmgard Rosan trug seit fünf Jahren einen Herzschrittmacher, der die Atemnot linderte, ihr Leben wieder erträglich machte. Doch dann die Horrormeldung ihres Kardiologen. Ihr Gerät sei kaputt. Es könne feucht werden und dadurch könne sie sterben. Deshalb müsse sie sofort operiert werden.

Es war ein Gerät der US-Firma Guidant. Feuchtigkeit kann bedeuten: Kurzschluss bei den Lebensrettern, Lebensgefahr für die Patienten.

Dass Herzschrittmacher verschiedener Hersteller versagen konnten, war für den Herzspezialisten Dr. Peter Kleine von der Frankfurter Uniklinik nichts Neues. Doch bei den Geräten von Guidant war die Rate deutlich höher als bei anderen. "Etwa 20 Geräte mussten wir tauschen", sagte er uns, in einem Zeitraum von 2 Jahren, nur an dieser einen Klinik. Auf Befragen erklärte Guidant der Monitor-Redaktion, ihre Implantate gehörten mit einer Rate von weit über 99 Prozent zu den zuverlässigsten weltweit. Doch Dr. Kleine in Frankfurt hatte bereits die Konsequenz aus seinen eigenen Zahlen gezogen. Schrittmacher von Guidant setzte er nicht mehr ein.

Ich fragte nach beim BfArM, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Wie viele deutsche Patienten mit Guidant-Geräten sind betroffen? Die Behörde musste erst einmal den neuesten Stand der Sicherheitswarnungen errechnen: Weltweit waren 385.931 Guidant-Geräte möglicherweise defekt. Wie viele in Deutschland, konnte das Amt nicht sagen.

Das BfArM stellt zwar die Risikowarnungen aller Hersteller ins Internet, denn auch andere haben Probleme mit defekten Geräten. Doch was dann passiert, bleibt in der Regel Ärzten und Kliniken überlassen. Die Hersteller haben keine Patientendaten.

Professor Roger Grase war lange im Bundesinstitut für die Kontrolle von Medizinprodukten zuständig. Sind die Interessen der Hersteller wichtiger als die Gesundheit der Patienten?

Seine nüchterne Analyse: "Die Wirtschaftsfreundlichkeit der Regelungen in Europa ergibt sich durch den Einfluss der entsprechenden Industrie. Und weil die Industrie mit ihren Verbänden auch bei den entsprechenden Verhandlungen jeweils zugegen ist."

Ich fragte: "Also macht die Industrie sich ihre Kontrollmechanismen selbst?"

Antwort: "Sie macht sich die Kontrollmechanismen nicht selbst, aber sie entscheidet sie weitgehend mit."

Ein weiterer Fall, wir nennen ihn Gerd Müller. Wir durften sein Gesicht nicht zeigen, er ist ist Staatsdiener mit Geheimaufgaben. Dem trainierten Sportler und Motorradfahrer ging es mit seinem Schrittmacher immer schlechter. Er wurde krank geschrieben. Und dann kam der Schock seines Lebens. Ein Kollege fand zufällig ein Schreiben der Firma Guidant, in dem es um diverse Rückrufaktionen ging. Darin las er, dass sein Herzschrittmacher INSIGNIA Ultra DR 1290 ebenfalls betroffen sei.

Wutentbrannt sei er dann in die Klinik nach Heidelberg gefahren, berichtet er uns. Er habe den Leuten das Schreiben auf den Tisch geknallt und gefragt, wieso er von der Klinik nicht verständigt worden sei.

Nur weil er von sich aus nachfragte, wurde sein Schrittmacher vorsorglich gegen ein Gerät einer anderen Firma ausgetauscht.

Auch wir fragten in der Klinik nach. Klinikdirektor Prof. Katus wollte uns erzählen, dass Müllers Schrittmacher gar nicht auf der Warnliste von Guidant stand. Wir zeigten ihm das Schreiben. Dann wand er sich: Der Typ habe wohl da gestanden, aber nicht die Seriennummer.

Dann der Clou. Erst auf Insistieren des Patienten Müller hatte die Klinik noch einmal beim Hersteller angerufen. Dabei stellte sich heraus, dass auch Müllers Gerät unter Umständen einen Defekt haben könne, obwohl die Seriennummer nicht in dem Warnschreiben ausgeführt war. Deswegen wurde es vorsorglich ausgetauscht.

Die beiden Beispiele Rosan und Müller zeigen: Welcher Träger eines von einer Sicherheitswarnung betroffenen Geräts wann und mit welchen Folgen informiert wird, und wer erneut operiert wird, gleicht einem Roulette. Eine gefährliche Verkettung: Schrittmacherpatienten sind ihren Ärzten ausgeliefert, und die der Industrie.

Die deutsche Vertretung der Firma Guidant antwortete uns, sie warne bereits bei Fehlerraten von unter 0,1%. Der Gießener Sachverständige Professor Werner Irnich bezweifelt die Aussagekraft solcher Berechnungen. Er hatte zu Zeitpunkt des Interviews knapp 900 Schrittmacher von Verstorbenen kurz nach deren Tod untersucht.

Ergebnis: Man müsse davon ausgehen, so Irnich, dass "von drei Defekten zwei unerkannt bleiben und nur einer erkannt" und durch Austausch behoben wird. Die Defekte blieben deswegen unerkannt, "weil der Patient mit ihnen stirbt."

Das ist Roulette mit eigentlich lebensrettenden Herzschrittmachern.

Beispiel 3: Schrott im Körper – Defekte Hüftgelenke

Ähnlich wie bei den Herzschrittmachern laufen auch Tausende von Trägern zum Beispiel künstlicher Hüftgelenke Gefahr, dass ihr Implantat versagt. Denn Tausende sind fehlerhaft und müssen vorzeitig herausoperiert werden. Diese Problematik ist Inhalt eines Beitrags, den ich am 5. Juli 2011 im Wirtschaftsmagazin "plusminus" in der ARD sendete.

Ralf Siegel ist begeisterter Motorradfahrer, doch er traut sich nicht mehr auf die Maschine. Von Kindheit an hatte er Dauerschmerzen. Darum bekam er ein neues Hüftgelenk. 15 bis 20 Jahre sollte es halten. Doch es hielt nur vier Jahre. Eines Tages wollte er auf sein Motorrad steigen. Doch beim zweiten Schuh tat es plötzlich einen Schlag, Siegel stürzte hinterrücks um. Danach hatte er irre Schmerzen in der operierten Hüfte. Krankenhaus, die Prothese war gebrochen.

Hersteller des gebrochenen Implantats war die Firma Eska Implants. Die zahlte Siegel gerade mal 15.000 Euro Schmerzensgeld und Schadenersatz. Mittlerweile ist sie pleite.

Wie kann es zu solchem Versagen kommen? Ich fragte einen der wenigen unabhängigen vereidigten Sachverständigen in Deutschland. Ulrich Holzwarth hat untersucht, warum ein solcher, mehrere tausend Euro teurer Metallschaft einfach brechen kann.

Die Schäfte der Firma Eska Implants seien zur damaligen Zeit aus einem gegossenen Werkstoff gefertigt worden, sagte uns der Fachmann. Bei geschmiedeten Schäften passierten solche Fehler nicht. Die Firma habe offenbar aus Kostengründen das billigere Fertigungsverfahren gewählt. Und somit seien diese Schäden zu erklären.

Warum werden solche sogar vorhersehbaren Schäden nicht von vorneherein vermieden? Das liege vor allem daran, sagte Holzwarth, dass "die Industrie in praktisch allen Gremien, die über Kontrollmechanismen befinden, mit am Tisch sitzt".

Doch obwohl die Probleme vielfach beschrieben sind, obwohl die Presse wie auch wir immer wieder solche Skandale aufgreifen und darüber berichten, es tut sich wenig bis nichts.

Der Berliner Rechtsanwalt Jörg Heynemann ist auf solche Fälle spezialisiert. Er vertritt Hunderte von Opfern solcher Material- oder Konstruktionsfehler. Seine Schätzung: Man müsse von 300.000 eingesetzten Prothesen pro Jahr ausgehen. In einem Zeitraum von fünf Jahren würden ungefähr 10% der Prothesen versagen.

Immer wieder müssen Hersteller ganze Serien eingebauter Prothesen zurückrufen. Eine Auswahl aus dem Jahr 2010:

Rückrufe wegen Materialversagen:

  • B Braun Aesculap: geschätzt 5.000
  • Falcon Medical: geschätzt 2.500
  • Eska Implants: geschätzt 1.000
  • DePuy: geschätzt 5.500

Das war der Stand zum Zeitpunkt der Sendung.

Marlene Kemmerling ist selbständige Friseurmeisterin. Eineinhalb Jahre konnte sie nicht arbeiten Zigmal war sie in ihrem Krankenhaus, niemand wollte ihr glauben, dass die Schmerzen von ihrer künstlichen Hüfte kamen.

Aus eigenem Entschluss fuhr sie in die ENDO-Klinik nach Hamburg. Hier hat man besonders viel Erfahrung mit dem Austausch defekter Gelenke. Für die Ärzte dort war schnell klar, dass die Schmerzen bei Marlene Kemmerling vom Metallabrieb der Prothese kamen. Das verwendete Modell der US-Firma DePuy wurde von vielen Kliniken als besonders modern und angeblich knochenschonend angepriesen. Die ENDO-Klinik hat es jedoch wegen mangelnder Erprobung nie eingebaut.

Professor Thorsten Gehrke ist der Ärztliche Direktor der ENDO-Klinik. Sein sarkastischer Kommentar: "Ich würde das", kritisiert er die Werbug für das Modell von DePuy, "als marketinggetriebenen Hype bezeichnen". Marketinggetrieben sei nicht nur die Industrie, die "natürlich ihre Produkte an den Mann bringen will", sondern "auch aus der Sicht der Krankenhäuser und der Operateure".

Hersteller DePuy hatte das Produkt schon ein knappes Jahr zuvor zurückgerufen, doch das Krankenhaus, in dem Frau Kemmerling das Implantat bekam, kam nicht auf die Idee, sie davon zu informieren. Im Ausland war das Problem sogar noch länger bekannt.

Rechtsanwalt Heynemann recherchierte weltweit und stellte fest, dass die Firma das Produkt in Australien bereits ein Jahr früher zurückgerufen hatte. Die Zahlen seien dort so erschreckend gewesen, "dass man das Produkt eigentlich schon 2006 hätte vom Markt nehmen müssen". Diesen Vorwurf bestritt DePuy gegenüber der ARD. Dem Unternehmen hätten besorgniserregende Zahlen erst 2010 vorgelegen. Über den Streit werden wohl Gerichte entscheiden. Andere Länder haben längst Register, in denen jede eingebaute Prothese verzeichnet ist und mit deren Hilfe Versager schnell entdeckt werden können.

Ein Endoprothesenregister für Deutschland haben Hersteller, Krankenhäuser, Krankenkassen und Ärzte erst vor Kurzem ins Leben gerufen. Damit sollen gute und schlechte Produkte unterscheidbar werden. Der Haken: Die Teilnahme ist freiwillig.

Und wer prüft? Das sind wieder private Prüfunternehmen wie zum Beispiel TÜV oder Dekra oder auch die, welche auf den Fake des British Medical Journal hereinfielen.

Viele handeln offenbar nach dem Motto: Im Zweifel immer für den Hersteller. Schließlich ist er derjenige, der bezahlt.

Und so sind die Prüfungen offenbar so lasch, dass es bis heute immer wieder zu Rückrufen kommt.

Professor Gehrke von der ENDO-Klinik faßt seine Erfahrungen so zusammen: "Wir bewegen uns leider in einem Bereich bei der Hüftendoprothetik, in dem bis vor Kurzem eigentlich alles erlaubt war, fast alles". Jeder könne eine "eigene Prothese entwickeln", von einer Firma anfertigen lassen und "in den Patienten einsetzen".

Vor gut drei Jahren sind die Regeln für die Prüfung von Medizinprodukten zwar etwas strenger geworden. Doch der Hersteller darf sich noch immer die Prüfer selber aussuchen, irgendwo in Europa, im Zweifel da, wo es für ihn am günstigsten ist.

In diesem Zusammenhang muss auch mit einem weitverbreiteten Irrtum in Bezug auf den TÜV aufgeräumt werden. Für viele Menschen ist der TÜV eine quasi staatliche Institution, weil er unsere Autos alle zwei Jahre den gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungen unterzieht und ihnen sodann eine Plakette verleiht, die wiederum von der Polizei überprüft wird.

Was die meisten nicht wissen: Dies ist nur einer, eng begrenzter Tätigkeitsbereich des TÜV. Und nur für diesen ist er vom Staat "beliehen", so der verwaltungsrechtliche Fachterminus. Bei unseren Autos vertritt der TÜV den Staat, hier übt er "mittelbare Staatsverwaltung" aus.

Doch die Autokontrolle und die Vergabe von Führerscheinen ist für den TÜV nur noch ein wenig einträgliches Nebengeschäft. Den weitaus größten Ertrag erbringen andere Prüfleistungen wie Zertifizierungen z. B. von Medizinprodukten. Und hier sind die TÜVs nicht mehr Stellvertreter des Staats sondern konkurrieren knallhart mit europaweit rund 2500 "Benannten Stellen", auf einem Milliardenmarkt.

Dabei profitieren sie natürlich von dem weit verbreiteten Irrtum, sie seien als quasi staatliche Stelle unabhängig, neutral und unbestechlich. Legendär sind die Kungeleien mancher TÜVs mit den Atomkraftwerksbetreibern in der Vergangenheit.

So fand der TÜV Nord einst beim Bau des AKW Emsland nichts dabei, zur "Beschleunigung" seiner Prüfaufgaben gleich zwei Ingenieure der zu prüfenden Erbauerfirma Siemens/KWU in die eigenen Räumlichkeiten aufzunehmen. Die Siemens-Leute halfen kräftig mit bei der Überprüfung ihrer eigenen Firma. Das unbedingt notwendige Prinzip der unabhängigen mehrfachen Prüfung wurde schlicht über den Haufen geworfen.

Beim legendären Pannenmeiler Würgassen nickte der TÜV Hannover 1992 die Änderung lebenswichtiger Anlagenteile ab, ohne sie jemals geprüft zu haben. Als ein Spezialist bei der nachträglichen Prüfung Sicherheitsbedenken anmeldete, wurde nicht der Meiler wieder heruntergefahren sondern der kritische Prüfer kurzerhand gefeuert.

Die TÜVs sind eben nicht der unabhängige Staat, sondern Selbsthilfevereine der Industrie mit angeschlossenen internationalen Großplayern im lukrativen Prüfgeschäft. Zuständig für die Zertifizierung des Robodoc wie auch der lebensgefährlichen PIP-Brustimplantate war der TÜV Rheinland.

Die Mitglieder seines Verwaltungsrats lesen sich wie der Who-is-who der deutschen Großindustrie. Sie sind Abgesandte des Autobauers Ford, der Atomkraftwerksbetreiber Vattenfall und RWE, des Baukonzerns Wassermann, des Chemiemultis BASF oder des Aufzugbauers Schindler. Unternehmen, die sich vermutlich gerne der Dienste des TÜVs bedienen.

Es wird dringend Zeit, dass Medizinprodukte endlich einem effektiven und unabhängigen behördlichen Zulassungsverfahren unterworfen werden. Es muss zudem endlich das Produkt selbst geprüft werden, nicht mehr nur die papiernen Unterlagen der Hersteller. Für die Prüfungen müssen klinische Daten erhoben werden und bevor Medizinprodukte großflächig am Menschen eingesetzt werden, muss ihre Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit nachgewiesen werden und während des Einsatzes muss ein engmaschiges und verpflichtendes Meldesystem dafür sorgen, dass Fehlfunktionen und Fehlwirkungen so früh wie möglich erkannt werden.

Zudem sind verpflichtende Register für alle risikobehafteten Medizinprodukte zu führen, sodass man bei Fehlfunktionen auch alle anderen Empfänger zeitnah informieren und überprüfen kann.

Aber auch alle potentiellen Empfänger von künstlichen Gelenken und anderen Ersatzteilen für den menschlichen Körper sollten umdenken. In vielen Bereichen sind die Deutschen Weltmeister beim Austausch solcher Teile. Fachleute bezweifeln schon lange, ob deren Einbau medizinisch immer notwendig ist. Schließlich ist der menschliche Körper kein Auto, an das man mal gerade den nächsten Motor einbaut oder den Auspuff austauscht. Der Einbau künstlicher Gelenke und von Herzklappen ist immer mit einer schweren Operation verbunden, mit all ihren Risiken. Die Ersatzteilmentalität der Deutschen sollte auf den Prüfstand.

Die Krankenkassen haben wohl mittlerweile das Problem erkannt. Schließlich müssen sie die gesamten Kosten für die Revisionen und Reparaturen tragen. Es sei denn, sie würden die Verursacher nach § 116 SGB X gerichtlich zur Verantwortung ziehen.

Die Stellungnahme, die uns Ann Marini vom Spitzenverband Bund der Kassen gab, klingt jedoch nicht danach, als würden die Kassen hier besondere Aktivitäten entwickeln, um sich das Geld der Versicherten zurück zu holen:

"Heute haben wir die Situation, dass der Patient definitiv nicht sicher sein kann", sagte uns Sprecherin Ann Marini von der obersten Kassenorganisation, "dass das Produkt, was er in seinen Körper reinoperiert bekommt, auch wirklich sicher ist". Das aber sei "eine Situation, die ist unhaltbar".

Diese Position reicht nicht. Die Kassen sind die Einzigen, die über die notwendigen Daten verfügen. Sie müssten noch viel systematischer überprüfen, welche Eingriffe nötig sind oder waren und welche umgekehrt verzichtbar. Sie müssten noch viel deutlicher darauf dringen, dass nur wirklich überprüfte Medizinprodukte "reinoperiert" werden.

Und wenn ein solcher Eingriff schief geht, müssen sie viel entschlossener die Verursacher zur Verantwortung ziehen, zahlen sie, bzw. die Versichertengemeinschaft doch Milliarden für Revisionen und Reparaturen. So könnten die Kassen wirkliche Prävention betreiben, indem sie ihre Mitglieder vor allzu gierigen Herstellern aber auch Ärzten und Kliniken zu schützen.

Wir geben zur Zeit rund 240 Milliarden für unser Gesundheitswesen aus. Der größte Teil davon stammt aus den Beiträgen der gesetzlich Versicherten. Fachleute schätzen, dass mindestens zehn Prozent der Gesundheitsausgaben in korruptiven Kanälen verschwinden. Würde man die 24 Milliarden sparen, ließe sich damit wohl eine sehr viel bessere Gesundheitsversorgung betreiben können.

Das Problem Medizinprodukte bleibt einstweilen ungelöst. Das Bundesministerium für Gesundheit antwortete uns auf Nachfrage, die Europäische Kommission sei mit der Überarbeitung der Gesetze befasst.

Deren Vorschlag wurde Ende September 2012 veröffentlicht. Auf 189 Seiten stehen vor allem Allgemeinplätze und Absichtserklärungen. Zu entscheidenden Verbesserungen im Interesse der Verbraucher findet man nach einhelliger Meinung kritischer Fachleute nichts. Aus den Regierungsfraktionen in Berlin hingegen kommt verdächtiger Beifall: Jens Spahn zum Beispiel, CDU-Gesundheitspolitiker, freut sich, dass "Innovationen weiterhin zeitnah zur Verfügung stehen".

Der Robodoc war eine sogenannte Innovation. Der Herzschrittmacher von Guidant auch. Auch das Hüftgelenk von DePuy wurde als besondere Neuheit gepriesen.

Allerdings bricht das Produkt gerne und seine innovativen Eigenschaften führen dazu, dass das teure Implantat giftige Schwermetallionen in den Körper der Betroffenen absondert.

Eine strenge, unabhängige Kontrolle von Medizinprodukten ist längst überfällig. Am Besten, bevor sie in den menschlichen Körper eingebaut werden.

Zum Autoren:

Herbert Stelz ist Journalist und Publizist. Er recherchiert für verschiedene Politmagazine der ARD, Zeitungen und Magazine (z.B. "Monitor", "PlusMinus", "Die Zeit" und "Stern". Herbert Stelz lebt in Frankfurt am Main.

BIG Business Crime ist eine Dreimonatszeitschrift des gemeinnützigen Vereins Business Crime Control e.V.
Herausgeber: Business Crime Control e.V., vertreten durch den Vorstand Erich Schöndorf, Stephan Hessler, Wolf Wetzel, Wolfgang Patzner, Hildegard Waltemate
Mitherausgeber: Jürgen Roth, Hans See, Manfred Such, Otmar Wassermann, Jean Ziegler
Verantwortliche Redakteurin: Victoria Knopp
Redakteure: Hans See, Gerd Bedszent, Reiner Diederich, Stephan Hessler

An dieser Stelle veröffentlichen wir ausgewählte Artikel aus der Zeitschrift BIG Business Crime online.

Beiträge in BIG Business Crime 03/2013 u.A.:

Stephan Hessler: Raus aus der Euro-Phobie!

Hans Scharpf: Das heutige Geld- und Finanzssystem ist verfassungswidrig

Herbert Stelz: Schrott im Körper - Patienten als Versuchskaninchen

Christoph Rinneberg: Rede auf der Hauptversammlung der Deutschen Bank AG am 23.05.2013

Horst Seiffert: Die Finanzkrise - ein kalkulierter Kollateralschaden?

Gitta Düperthal: Wie sich die Kirchen beim Staat bedienen

Hans See: Buchbesprechung "Ego - das Spiel des Lebens" von Frank Schirrmacher

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BIG Business Crime

BIG Business Crime ist eine Drei-Monats-Zeitschrift des Vereins Business Crime Control e.V. Seit Ende 2018 online unter: big.businesscrime.de

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