“Requiem” von Karl Alfred Loeser – eine große Neuentdeckung der Exilliteratur

Exilliteratur Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten flüchtet Loeser nach Brasilien. Erst nach seinem Tod 1999 findet die Familie ein Konvolut von unveröffentlichten Manuskripten, darunter "Requiem".

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„Erich Krakau war ein bedeutender Künstler. Für ihn müsste es leichter sein, ins Ausland zu gehen. Aber nichts da, man misstraute ihr, verlangte Kontakte und Zertifikate und machte ihr immer neue Schwierigkeiten, einfach nur, wie sie bald entdeckte, weil er Jude war. Auch die aufgeklärten Länder, die sich auf ihre Freiheit und Werte so viel einbildeten, wollten keine Juden mehr. Es war wie eine ansteckende Krankheit, die um sich griff und allerorten Anhänger und Nachbeter fand. Lisa begriff, dass der Mensch in der Welt von allen Dingen das wertloseste und überflüssigste war.“

Wie fragil, wie leicht zerbrechlich die Existenz eines Menschen ist, dies hat Karl Alfred Loeser am eigenen Leib erlebt: Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten flüchtet der junge Mann, 1909 in Westfalen geboren, zunächst nach Amsterdam, wo sein Bruder Norbert, ein bekannter Musiker, bereits lebt. Mit seiner Frau Helene, die er in Holland kennenlernt, geht die Flucht bis Brasilien weiter. In São Paulo findet Loeser eine Anstellung bei einer holländischen Bank, wird Vater, baut sich und seiner Familie eine neue Existenz auf, spielt in seiner Freizeit Geige in einem Laienorchester. Und: Schreibt. Erst nach seinem Tod 1999 findet die Familie ein Konvolut von unveröffentlichten Manuskripten, darunter Novellen, Romane, Theaterstücke.

Wie anders dieses Leben verlaufen wäre, vielleicht als freie Künstlerexistenz, vielleicht als anerkannter Schriftsteller, hätte es nicht die gnadenlose Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten gegeben, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Aber zumindest kommt nun einer seiner Texte doch an die Öffentlichkeit – ein grandioser Fund, der einer anderen sensationellen Wiederentdeckung zu verdanken ist: Als „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz fast 80 Jahre nach der Wiederveröffentlichung erneut erschien und um die Welt ging, wurde auch der Urenkel von Karl Alfred Loeser auf diesem Roman, der mitten aus dem Reich der Finsternis berichtete, aufmerksam. Und wandte sich an dessen Herausgeber Peter Graf. Der erkannte den Wert von „Der Fall Krakau“, wie Loeser den Text selbst betitelt hatte, editierte und lektorierte das Manuskript behutsam, wie er in seinem Nachwort zu „Requiem“ schreibt:

„Schwer war das in diesem Fall nicht, denn ein so geschickt durchkomponierter Roman macht es einem leicht (…). Requiem ist ein erstaunlich zeitloses und auch berührendes Buch, es unternimmt auf sehr eigenständige Weise den Versuch, zu verstehen, was unbegreiflich ist, und jenseits aller schmerzhaften Erfahrungen ist es nicht ohne Hoffnung.“

Loeser erzählt „den Fall Krakau“, die Vertreibung des letzten jüdischen Musikers an einem renommierten Theater in Westfalen aus dem Orchester, seiner Stadt und seinem Land spannend, beinahe in der Art eines Politkrimis. Erich Krakau ist ein weithin anerkannter Cellist, der sich trotz der dunklen Vorzeichen noch wohlaufgehoben in seinen Künstlerkreisen glaubt. Als ein befreundeter Arzt bei Nacht und Nebel vor der Gestapo flüchtet, hilft er diesem, glaubt sich aber immer noch in Sicherheit. Doch da setzt eine ungeheure Intrige ein: Der 22-jährige Fritz Eberle, ein musikalisch untalentierter Bäckersohn, mit Minderwertigkeitskomplexen behaftet, will Krakaus Stelle als Cellist am städtischen Sinfonieorchester. Und setzt dafür alle Hebel in Gang: Er besticht einen schmierigen Journalisten, der eine Hetzkampagne auslöst, SA-Claqueure stören ein Konzert, das Krakau gibt, schließlich wird der Musiker der Polizei und den Ränkespielen eines ehrgeizigen stellvertretenden Gauleiters ausgeliefert, der Krakau im „Judenkäfig“ unter der Erde des örtlichen Gefängnisses festsetzt. Dass dem Musiker mit seiner Frau Lisa in letzter Minute die Flucht aus dem deutschen Reich gelingt, ist dem couragierten Eintreten einiger Künstlerfreunde mit guten Beziehungen zu verdanken.

Dass die Erzählung mit zunehmendem Tempo auch atmosphärisch immer beklemmender wird und beim Lesen mitreißt, ist nicht die einzige Qualität des Romans. Vielmehr sind es die verschiedenen Perspektiven, aus denen Loeser erzählt, und die ein glaubhaftes Bild von der Stimmung im sogenannten Dritten Reich, aber auch vom Schicksal der Exilanten vermitteln. Loeser lässt Opportunisten, Gewalt- und Machtmenschen, aber auch die „alte Garde“ am Beispiel des Gauleiters von Oertzen (ein Militär, der, die Flucht Krakaus ermöglicht und sich danach das Leben nimmt) auftreten, zeigt auf, wie in einer Diktatur allmählich Entmenschlichung einsetzt und Gleichschaltung funktioniert. Ebenso kommen in „Requiem“ aber auch die Stimmen aus dem Untergrund und dem Widerstand zu Gehör, die der Geflüchteten und Geknechteten. Ein vielstimmiger Chor, der diese Tragödie begleitet.

Wenn Loeser über sein Alter Ego Erich Krakau aus diesem Roman zu uns spricht, dann erhebt sich auch eine Stimme aus der Vergangenheit, die etwas zeitlos Mahnendes sagt, in diesen Zeiten so aktuell wie je:

„Es ist die verderbliche Sucht der Kleinlichen, Menschen einzuteilen, zu klassifizieren und Schuldige zu suchen. Hier Gut, dort Böse, hier Licht, dort Schatten, hier Arier, dort Jude.“ Doch, so der Musiker im Gespräch mit einem Kollegen: „Ist es denn Lüge, dass ich den Himmel liebe, unter dem ich geboren, die Landschaft, in der ich groß geworden bin? Ist es denn Lüge, dass ich Beethoven und Brahms liebe? Wenn das alles Lüge ist, dann gibt es nichts Wahres mehr auf der Welt.“

Es ist auch der Glaube an den Teil im Menschen, der in der Kunst so unglaublich Schönes zu erschaffen mag, ebenso wie der Glaube an die Liebe seiner Frau Lisa, der Erich Krakau in „Requiem“ aufrechterhält, als er allmählich erwacht und die bedrohlich zunehmende Gefahr für Leib und Leben erkennt. Es ist auch dieser Glaube an die Schönheit der Musik, die ihn mit der zunehmenden Entmenschlichung seiner Umwelt fertig werden lässt. Und vielleicht war dies auch der Glaube, von dem sich Karl Alfred Loeser in seiner Exilexistenz tragen ließ.

„Karl Loeser behielt recht“, meint Peter Graf in seinem Nachwort: „Die Finsternis wich einem neuen Licht, und wie den dunklen Wolken womöglich zu begegnen ist, die unentwegt und immer wieder aufs Neue aufsteigen, ist eine der Lehren, die sein Roman für uns Lesende bereithält.“

Karl Alfred Loeser, „Requiem“, Klett-Cotta Verlag, 2023

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Birgit Böllinger

Journalistin + PR für unabhängige Verlage, Literaturjunkie mit eigenem Blog (birgit-boellinger.com/blog).

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