Der Tod auf der Bühne: Wie, sterben?

Theater Lange verdrängt, ist der Tod in den Westen zurückgekehrt. Zum Glück scheuen die Theater die Konfrontation nicht
Ausgabe 44/2022
Unser aller Schwanken: William Cooper in „Das neue Leben“ in Bochum
Unser aller Schwanken: William Cooper in „Das neue Leben“ in Bochum

Foto: Joerg Brüggemann/Ostkreuz

Auf einmal ist er ins Zentrum der westlichen Gesellschaften zurückgekehrt: der Tod. Erst in der Gestalt millionenfacher Corona-Opfer, nun in jener von Kriegsgefallenen. Lange konnte sich die spätmoderne Wissensgesellschaft im Irrglauben wägen, ihn doch noch zu überwinden, zumal er einfach nicht mehr ins Bild passte. Weder fügte er sich in den Traum vom ewigen Leben, befeuert durch eine sich in grenzenloser Selbstüberschätzung gebärdenden Schönheitsindustrie, noch wollte er sich dem Leistungsdiktat des 21. Jahrhunderts unterordnen. Wohl auch deshalb wurde er institutionell verdrängt, etwa in Pflege- und Hospizeinrichtungen. Lediglich im spannenden, aber zum Glück vom eigenen Alltag weit entfernten Genre True Crime wollte man sich ihm noch stellen.

Das Theater hat sich dieser Ausklammerung hingegen nicht angeschlossen. Sehr offensiv konfrontieren uns die RegisseurInnen unserer Tage mit der letzten Schwelle unseres Daseins. Zu den stärksten Arbeiten zählt gewiss Anna Bergmanns Inszenierung von Alice Birchs [Blank] am Badischen Staatstheater Karlsruhe. Ein Totschlag in der Beziehung reiht sich in dem multiszenischen Arrangement mitunter an einen Kindsmord. Markerschütternd mutet diese unverstellte Brutalität nicht nur durch die finstere Aufmachung des Geschehens und die gänzlich ironiefrei geschilderte Verzweiflung der Protagonisten an, sondern ebenso durch das Bühnenbild. Zu sehen ist ein transparentes Haus auf einer Rondellbühne. Die Devise: Stellt euch der Gewalt und dem Tod in eurer Mitte!

Völlige Sichtbarkeit erscheint als der theatrale Kontrapunkt zu einer Kultur des Wegsehens – gerade auch in einer Epoche der medialen Dauerausleuchtung, wie beispielsweise Nick Hartnagels Realisierung des neuen Stücks von Clemens J. Setz, Der Triumph der Waldrebe in Europa, am Schauspiel Stuttgart zeigt. Um ihren verunglückten Sohn nicht loslassen zu müssen, erschafft sich darin eine Mutter einen digitalen Avatar von ihm. Sowohl ihr lediglich mit einem hauchdünnen Vorhang verdecktes Haus als auch die darüber sichtbaren Projektionen signalisieren, dass es keine geheimen Stellen mehr gibt. Die Dunkelheit des Todes wird verdrängt durch gleißendes Licht.

Obgleich beide Stücke mit einer ähnlichen Transparenz operieren, fallen ihre Botschaften unterschiedlich aus: Während Bergmann das Publikum mit dem Unausweichlichen konfrontiert und ihm abverlangt, sich mit dem Schrecken zu beschäftigen, zeigt Setz’ Werk auf, wie der Mensch mit neuer Technik der Auseinandersetzung mit dem Abschied zu entgehen versucht.

Vampirischer Neoliberalismus

Nicht in jeder jüngeren Inszenierung wird das letzte Kapitel in derart offensichtlicher Präsenz verhandelt. Insbesondere untote Figuren, diese Nomaden zwischen Dies- und Jenseits, wissen ihren Status zu kaschieren. Sie halten sich allein durch ihre Kostüme aufrecht. So etwa in Sarah Kilters White Passing, inszeniert von Thirza Bruncken am Schauspiel Leipzig. Die SchauspielerInnen erscheinen in Barbie-Outfits, bewegen sich roboterhaft und sprechen mit höchster Kopfstimme. Über diese Attribute hinaus verfügen sie, eingezwängt in einen gigantischen Kulturbeutel mit riesigen Warenpackungen, kaum über eine eigene Identität. Ihre Rede basiert fast nur auf Werbesprüchen und Schubladensätzen, die man irgendwo schon einmal gehört hat. Der pure Kapitalismus bildet ihr Korsett. Dahinter verbirgt sich nur Leere.

Anders als bei Bergmann oder Hartnagel wird der Tod in diesem Stück als ein schon das Leben vereinnahmender Zustand beschrieben. Mit ästhetischer und satirischer Radikalität thematisiert die Regie das Seelenvakuum des Menschen im vampiristischen Neoliberalismus. Sich zu definieren gelingt ihm nur noch durch äußerliche Zuschreibungen von Markenartikeln.

Also alles recht trostlos, sollte man meinen. Obschon uns ein großer Teil der gegenwärtigen Bühnenkunst eher beängstigenden und wenig erbaulichen Bildern vom Übergang ins Jenseits aussetzt, vermag sie uns hier und da auch Trost zu spenden. Und zwar insbesondere dann, wenn ein Stück wie Das neue Leben schon im Titel Hoffnung verspricht. Angelehnt an Dante Alighieris Werk Vita Nova aus dem Jahr 1293, einer Verarbeitung seiner unglücklichen Liebe zu Beatrice, hat Christopher Rüping in seiner Realisierung am Schauspiel Bochum ein wunderschönes Werk über den Umgang mit dem Sterben geschaffen. Es veranschaulicht unser aller Schwanken, unsere Ängste und Wünsche. Dabei suchen darin vier ProtagonistInnen nur nach den Worten, mit denen man dem Gegenüber seine tiefste Liebe ausdrücken kann. Während sie ausführlich Dantes Text drehen und wenden, um Worte ringen, die man Beatrice noch hätte sagen können, wäre da nur genug Mut gewesen, stirbt Letztere. Was dann folgt, ist ein einziges, episches Bild, das letztlich Dantes gesamtes Monumentalwerk, Die Göttliche Komödie von 1321, pointiert und wirkungsstark zusammenfasst: Ein Leuchtelement dreht sich spiralförmig und zu Elektrosounds durch den finsteren Raum, während die DarstellerInnen als Raupe oder Schmetterling – eben in Metaphern für die Metamorphose – über die Bühne ziehen. Das Ganze dauert genau zweimal neun Minuten. Und zwar mit gutem Grund, wohnt dem Aufbau dadurch die heilige und für die göttliche Vollkommenheit stehende Drei inne. Am Schluss treffen sie tatsächlich die gealterte Geliebte des italienischen Dichters, die ihnen zwar keine Illusionen über den Tod macht, aber trotzdem offenbart: Es gibt ein Danach. Berührend klingt das Werk in einem Chor aus, der ein Lied des Rappers Danger Dan singt: „Das Dilemma, dass wir schon das Ende kennen, zwingt uns ja nicht dazu, es hier nicht schön zu finden. Wie unwahrscheinlich war, dass wir uns treffen hier, eine Milliarde Sterne mussten explodieren.“

Gibt es also ein Wiedersehen mit all denjenigen, die von uns gegangen sind? Nicht nur hierauf antwortet das Stück mit Ja. Der Tod, er wird auch für die zeitweilige Dante-Figur zu einer Befreiung. Sobald er das Paradies betritt, tanzt er zu dem Song Places von The Blaze in berauschendem Freestyle. Geboten wird damit ein Auftritt, der in seiner ungehaltenen Dynamik reichlich Mut spendet.

Ob das Theater seine ZuschauerInnen wie Bergmann dem Schock des Todes aussetzt oder ein traumhaftes Bühnengemälde à la Rüping entwirft – es wagt stets die Transzendenz, anstatt den Tod zu verdrängen. So vermag es, sich in einen metaphysischen Raum zu verwandeln, der die Möglichkeit eröffnet, einen anderen Blick auf das Hier und Jetzt zu werfen. Selbst und gerade von dort, wo der Mensch zu Staub zerfällt, ruft man uns zu: Lebt, wachsam und intensiv!

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