Endlich fremd!
Betrachtung Heike Behrend forschte in Afrika und wurde selbst zum Studienobjekt
Können wir aus unserer Haut heraus? Ist es uns möglich, aus der Perspektive unseres bequemen und nicht selten oberlehrerhaften Eurozentrismus auszubrechen? Ja, wir können, wie Heike Behrends verblüffend erfrischendes Buch Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung beweist. In den 70er Jahren kommt sie als die Fremde und „Kannibalin“, wie sie die Einheimischen nennen, nach Kenia und Uganda. Während sie meint, die anderen zu beobachten, wird sie derweil selbst zum Studienobjekt der Afrikaner. Die Folge: die sukzessive Hinterfragung der eigenen wissenschaftlichen Disziplin, die bei genauerem Hinsehen nicht frei ist von Spuren kolonialen Denkens. Je mehr die Hierarchien zwischen der Empirikerin und den Einwohnern schwinden, desto mehr tritt dabei das Echte eines ansonsten mit Stereotypen bevölkerten Schwarzen Kontinents zutage. Er zeigt sich uns als Gebilde voller Facetten und Nuancen. Vor allem aber als ein Gebiet des wechselseitigen Kennenlernens. Am Ende bleiben weder die Autorin noch die Menschen vor Ort ganz dieselben. Man reift aneinander. Wer nach der greifbaren Bedeutung hinter abstrakten Begriffen wie Alterität und Diversität fragt, wird sie in dieser gewiss erhellenden Studie, einer längst überfälligen Lehre in Sachen interkultureller Selbstkritik, finden.
Info
Menschwerdung eines Affen. Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung Heike Behrend Matthes & Seitz, 278 S., 25 €
Abseitiger Blick
Entstehung Warum der Blick auf Palästina während des Zweiten Weltkriegs neue Erkenntnisse befördert, zeigt uns Dan Diner
Wer glaubt, es sei schon alles über Hitlers Feldzug und Genozid samt seiner Gründe und Folgen gesagt, wird spätestens mit der Studie Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg – 1935 – 1942 eines Besseren belehrt. Sie stammt von Dan Diner, dem 1946 in München geborenen Lehrstuhlinhaber für Neuere Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, und widmet sich vor allem dem Blick auf Palästina, genauer auf die Zeit zwischen dem Abessinien-Krieg 1935 und den Schlachten von El Alamein und Stalingrad 1942. Wie der ehemalige Direktor des Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur herausarbeitet, zeigt sich in der für die Briten damals geostrategisch relevanten Zone, warum das Empire zerfiel und zahlreiche Jüdinnen und Juden dort überleben konnten. Auch mit diesem Werk rückt die Jury einen Text in den Fokus, der ganz bewusst die abseitige Perspektive wählt, um die Schrecken des Zweiten Weltkriegs besser verstehen zu können. Jenseits sehr konkreter historischer Erkenntnisse vermittelt Dan Diner darüber hinaus ebenfalls ein sehr zeitgemäßes Politikverständnis. Sein Fokus richtet sich auf globale Zusammenhänge, die sich im Regionalen widerspiegeln. Entstanden ist somit ein kluges wie weitsichtiges Buch über postnationale Analyseinstrumentarien für nationale bis nationalistische Manöver.
Info
Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg – 1935 – 1942 Dan Diner DVA, 352 S., 34 €
Der Kosmos und Du
Vermessung Michael Hagner schreibt über ein Experiment des 19. Jahrhunderts, das verblüffend im Anthropozän weiterwirkt
Im Pariser Pantheon, umgeben von Helden, die die Welt gesellschaftlich bewegten, kann man seit Jahrhunderten eine physikalische Tatsache beobachten, die dokumentiert, wie sich die Welt physisch bewegt. Die Rede ist von einem Pendel, dessen Vorläufer einstmals der Physiker Léon Foucault für ein Experiment in seinem Haus einsetzte. Da es, einmal in zwei Meter Höhe befestigt, nicht durch die Schwerkraft stillgehalten wird, sondern langsam seine Kreise dreht, dient es dem Wissenschaftler als Beleg für die Erdrotation. Was nun Michael Hagner in seiner Schrift Foucaults Pendel und wir. Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter unternimmt, ist mehr als ein Versuch einer Erklärung, mehr als ein Nacherzählen komplexer Fachmaterie. Vielmehr fragt er danach, was uns die Erkenntnis des Forschers Foucault heute noch sagen kann. Er lehrt uns, die Dynamik der Natur zu achten, unseren Einfluss auf ihre Bewegung zu studieren: „Während es menschliche Animositäten und gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Pandemien und Pöbeleien, Kriege und Klimakatastrophen (…) gibt, von Posthumanismus und Anthropozän gesprochen wird, das Pendel in Münster (…) schwingt, tut die Erde das, was sie immer schon getan hat, nachdem der Kosmos sich einigermaßen eingewackelt hatte: Sie dreht sich um die Sonne und um die eigene Achse“ und lässt sich wunderlich vermessen, zwischen Buchdeckeln.
Info
Foucaults Pendel und wir. Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter Michael Hagner König, Walther, 396 S., 38 €
Politisch bewandert
Orientierung Der Verfassungstheoretiker Christoph Möllers fragt in 349 kurzen Kapiteln, was die Freiheit bedroht und wie wir sie heute denken sollten
Freiheit! – der Sehnsuchtsbegriff gerade in einer von Pandemie und Lockdown gebeutelten Gesellschaft. Ihm hat nun Christoph Möllers ein ganzes Buch gewidmet. Dabei zeigt er sich zum einen als Diagnostiker, der genau die Gefährdung liberaler Systeme in der Gegenwart analysiert, zum anderen arbeitet er neue Perspektiven auf die Freiheit heraus, die er mit einem ergebnisoffenen Charakter versieht. Während die Widersprüche des Liberalismus manche Intellektuellen bereits zu spöttischen Abgesängen auf ihn stimuliert haben, dienen sie Möllers, Inhaber des Lehrstuhls für Staatsrecht und Verfassungstheorie an der Berliner Humboldt-Universität, als produktives Moment. Freiheit lebt von Spannungen und unterschiedlichen Polen. Man muss offenbar nur den Raum dazwischen vermessen, seine Mitte stets neu auspendeln. Deshalb besteht das Anliegen des Juristen vor allem darin, einen „politische(n) Reiseführer, der ein liberales Orientierungsmuster entwirft“, vorzulegen. Als bemerkenswert und dazu passend erweist sich dabei das von ihm gewählte Design. Denn statt epischer Begriffsmodellierungen und langatmiger kulturgeschichtlicher Exkurse bietet der Autor knappe, beinah aphoristische Passagen in 349 Kapiteln an. Die Devise lautet: Das ganze Große denken, nur eben en miniature.
Info
Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik Christoph Möllers edition Suhrkamp, 343 S., 18 €
Moralisch integer
Verantwortung Vom Acker zur Agrarindustrie – was vom Land noch übrig ist, beschreibt Uta Ruge sehr persönlich
Längst steht heute nicht mehr nur hippe Urbanität im Kurs. Nein, das Landleben gewinnt an Attraktivität. Romane und Zeitschriften über das Gärtnern, die Koexistenz mit Tieren und Pflanzen sprießen buchstäblich aus dem fruchtbaren Boden unserer Sehnsucht nach Ruhe und Entschleunigung. Aber halt! So idyllisch mutet vieles in der Provinz längst nicht mehr an. Wo manch einer noch von heiler Biohof-Welt und einem stabilen W-Lan-Netz träumt, haben sich Agrarkonzerne breitgemacht. Mit den negativsten Begleiterscheinungen für Klima und Umwelt. Abstrakt mögen diese Entwicklungen bekannt sein. Konkret und anschaulich werden sie hingegen in dem erzählenden Sachbuch Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang der 1953 geborenen und auf einem landwirtschaftlichen Gut aufgewachsenen Uta Ruge. Es ist die Geschichte einer Entzauberung, eines persönlichen Abgesangs auf romantische Vorstellungen und zugleich ein gleißend-ehrlicher Aufklärungsbericht über eine der einschneidendsten Transformationen der Moderne. Wie viel Maschinenkraft braucht die Milchwirtschaft? Wie viel Tierleid ist zulässig in einer Gesellschaft, die weitaus gesünder und moralisch integrer leben könnte? Die Reihe der in diesem luziden Band aufgeworfenen Fragen ist lang, ungemein dringlich und lädt uns sensibel zu einer neuen Verantwortungsethik ein.
Info
Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang Uta Ruge Verlag Antje Kunstmann, 480 S., 28 €
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Dieser Beitrag ist Teil einer Verlagsbeilage in Zusammenarbeit mit der Leipziger Buchmesse. Die Nominierten in der Kategorie Belletristik stellen wir Ihnen hier vor. Die Nominierten in der Kategorie Übersetzung finden Sie hier.
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