„Alles in allem“ von Emanuel Maeß: Romantische Detonation
Amour fou Emanuel Maeß schreibt über Liebende im 21. Jahrhundert, als wären sie aus ihrer Zeit gefallen. Genau das ist so lesenswert. Björn Hayer über einen explosiven Roman
Emanuel Maeß zieht sämtliche Register einer manierierten Bildsprache
Foto: „Der Sündenfall“. Hendrick Goltzius (Ausschnitt); National Gallery of Art/AKG
Es gibt eine Liebe, die alles sprengt, uns in ekstatische Zustände versetzt. Was dabei freigesetzt wird, sind entweder selbstzerstörerische Kräfte oder gewaltige Kreativität. Manchmal auch beides zugleich, wie das Verhältnis der Protagonisten in Emanuel Maeß’ zweitem Roman Alles in allem belegt: „Aus unserer Position sah es so aus, als habe eine gigantische Detonation den ganzen, für uns noch einmal spürbaren Großzusammenhang irgendwann in tausend Stücke, Splitter und Partikel zerrissen und alles vormals Gebundene nach außen geschleudert. In jenem vorkataklysmischen Urzustand hätte uns noch alles betroffen, schienen die Fühlfäden dichter gespannt und mit der ganzen Welt verzurrt (...)“.
Doch dann, so der
Doch dann, so der Ich-Erzähler weiter, sei man „zu weit nach draußen geraten und schon zu fern von allem, kam eine Rückkehr zur Mitte hin für mich nicht mehr infrage“. Die Konsequenz: Dieser junge Mann, ein Theologie-Dauerpromovend mit Hang zum Dandytum, wird sich, nachdem ihm die Künstlerin Katharina so sehr den Kopf verdreht hat, gänzlich verlieren. Seine langjährige Beziehung zur eher mütterlichen Clara gibt Jakob auf und stürzt sich blindlings in eine Amour fou mit einer freigeistigen Frau, die nichts hält und mit jedem Atemzug nach Neuem strebt.Gewiss liest man solch eine Geschichte mit vorhersehbar explosivem Ausgang nicht zum ersten Mal. Außergewöhnlich erweist sich hingegen Maeß’ besonderer, bereits in seinem gefeierten Debüt Gelenke des Lichts (2019) entwickelter, für unsere Ohren fast weltfremder, schelmischer Ton, in den er das Geschehen einbettet. Mit seinen an Thomas Mann geschulten Langsätzen zieht er sämtliche Register des Pathos und einer manierierten Bildsprache. Dass dieses wagemutige Stilmanöver nicht immer gelingt, zeigen mitunter verschwurbelte und gespreizte Wendungen wie „Empfindnisse“ oder die Rede von einer „eskalierten Eigentlichkeit“. Unglücklich muten überdies Wendungen à la „Fick-, Bums-, Nagel-, Pimper- und Poppfolklore“ an, da sie sich kaum in das ansonsten elegante Parlando fügen.Andererseits – steckt dahinter augenscheinlich die Idee, eben nicht nur so süffig wie ein Thomas Mann zu schreiben, sondern unzeitgemäß und zeitgemäß zugleich zu klingen. Der 1977 in Jena geborene Schriftsteller wäre sonst zu kurios aus seiner Generation gefallen, die ja, kurz gesagt, sehr unromatisch ist und geprägt von Tinder und Metoo. Genau inmitten dieser Polarisierung schreibt also Maeß, zu dessen Vorbildern Proust, Jean Paul, Fernando Pessoa und Rilke gehören, anachronistisch und modern über das Begehren zwischen Mann und Frau. Er feiert die Unschuld der Erotik. In einem Interview betonte er einmal, dass es ihm in seinen Romanen um einen „alten Optimismus“ in Sachen Annäherung geht. Unter Verweis auf die Bibel, in der es heißt „sie erkannten einander“, definiert der Schriftsteller die Liebe – ziemlich weihevoll – als Medium der Erkenntnis.Wer denkt heute noch so? Wer ringt in seinem Schreiben noch mit Verzückung und Schönheit? Gewiss muss man festhalten, dass Maeß alle Konventionen des literarischen Zeitgeists sprengt und sich aktuell als ein wundervoller Outsider erweist. Während sich viele im Zweifel ergehen, sucht er nach einer neuen Spiritualität und weiß damit zumindest einige wenige Schriftsteller:innen neben sich, die immerhin eine kleine, aber bemerkenswerte Strömung bilden. Neben den in Totenreiche und himmlische Sphären weisenden Romanen Von oben oder Pfingstwunder der kürzlich verstorbenen Sibylle Lewitscharoff oder Martin Walsers mit katholischem Zeichenrepertoire angereichertem Text Muttersohn, die mittlerweile zu den Klassikern unserer Epoche zählen, ringen auch jüngere Titel um Transzendenz. Zu erwähnen wären beispielsweise Christoph Ransmayrs Balladen über kosmische Bergbesteigungen und olympische Helden in Unter dem Zuckerhimmel. Oder, noch frisch aus dem Druck: Simons Strauß’ Parabel zu zweit (der Freitag 2/2023) sowie Finn Jobbs Hinterher – beides Werke, die subtil Fragen zur Vorbestimmung und zu überirdischen Zusammenhängen andiskutieren.Ein BildungsromanMaeß‘ Roman zeichnet im Ensemble dieser Prosa vor allem aus, dass es ihm nicht vornehmlich um eine Gottessuche geht. Vielmehr treibt es ihn an, eine Welt jenseits der sichtbaren zu entdecken, wobei dem Text als solchem eine beinah schon sakrale Bedeutung zukommt. Erst indem man dessen Symbolik zu entschlüsseln vermag, tun sich Türen zu unbekannten Räumen auf. Wer hierbei an „Dichterpriestertum“, einst verbunden mit Namen wie Friedrich Hölderlin oder Stefan George, oder eine Kunstreligion denkt, liegt nicht falsch. Gerade Alles in allem veranschaulicht jedoch, wie Literatur bestehende (Glaubens-)Systeme verwandeln kann.Während das Christentum seit jeher für seine Körperfeindlichkeit in der Kritik steht, deutet Maeß dessen Grundlagen kurzerhand um. Mehrfach streut er Zitate aus Liedern und Bibelstellen ein, die Sexualität und Erotik als unabdingbare Brücke zur göttlichen Liebe nahelegen. So soll die Mystikerin Mechthild von Magdeburg dem Ich-Erzähler zufolge gesagt haben: „O Herr, minne mich gewaltig, und minne mich oft und lang …“ Was für den Beischlaf vonnöten ist, liefert – in etwas unorthodoxer Lesart – der 1. Korintherbrief 12, 26: „Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.“Keinerlei doppeldeutige Auslegung bedarf nach Ansicht des Protagonisten wiederum eine Beobachtung an den Kathedralen von Metz und Straßburg, wo die „Eingangspforten zum Teil mit allen anatomischen Details, klitoralen wie urethralen, sogar externen und internen Labien, Hymen und Septum versehen“ sind.Zum einen dienen derlei Kulturschätze den beiden Bohemiens und Hauptfiguren als Projektionsfläche ihres übersteigerten und fragilen Begehrens, zum anderen bringen die Diskursspielereien im Roman grundsätzlich zum Ausdruck, dass sich die nie endende Schöpfung letztlich in der Vereinigung zweier Liebender spiegelt. Alles gleicht einem Weg zur erhofften Erlösung. Seine Bahn erhält er in und durch die Macht des Erzählens. Daher überrascht es kaum, dass Katharinas Körper zu Beginn noch als eine Wüste geschildert wird. Erst nachdem sich Jakob dem Risiko dieser Landschaft aussetzt, verlocken ihn die Oasen. Und musste nicht auch Jesus vierzig Tage in der Steppe fasten, bevor es ihn in die Heilige Stadt verschlug?Anspielungen, Vergleiche und diskrete Querverbindungen bilden spürbar das geheime Zentrum hinter der recht einfachen Handlung der Story, die eine sehr elementare und vom Ich-Erzähler selbst aufgeworfene Frage über Sinn und Zweck fiktionalen Schreibens verhandelt: „Wie viel Wirklichkeit konnte Sprache denn überhaupt noch fassen? Waren die Begriffe nicht immer himmelweit von ihren Gegenständen entfernt?“ Wie diese Überlegungen dokumentieren, stellt eine Erkenntniskrise den Ausgangspunkt dieses Bildungsromans im besten Sinne dar. Überwinden kann sie sein Autor zwar nicht.Eine Annäherung an oft Unfassbares – von der Liebe bis zu Gott – scheint ihm aber doch mithilfe seines mit Codes aufgeladenen Metaphernreichtums zu gelingen. Literatur, so die Aussage dahinter, bietet ein Gerüst. Sie überführt das chaotische Dasein wenigstens in eine Ordnung aus Wörtern und Sätzen. Um nichts anderes geht es in den alten Mythen, die Jakob in den intellektuellen Gesprächen mit seiner Geliebten rekapituliert. Sei es die Odyssee oder Theseus’ Bezwingung des Minotaurus für Ariadne – im Licht antiker Geschichten scheint der Protagonist seine eigene Gegenwart besser zu verstehen.So schließt sich am Ende auch der Kreis aus Literatur und Metaphysik. Nachdem die Religion und ihre Institutionen seit der Moderne an Bindekraft verlieren, scheint die Prosa die Leerstelle mithin durch Fantasie zu füllen, der jedoch keinerlei Dogmatik anhaftet. Vielmehr ist alles in Bewegung: „Es war also ein eigenartiges Loch, das wir da beide in die Schöpfung küssten. Katharina und ich hätten darin für unbestimmte Zeiten Unterschlupf finden können, einer Nähe und Behaglichkeit willfahrend, die nie eigentlicher im Jetzt und Hier zur Ruhe gekommen wäre, wenn der holde Rausch nicht gleich wieder alles in weite Distanzen verschoben hätte.“Wie die Figuren kann man sich in diesem leidenschaftlichen Irrgarten verlaufen. So gesehen, erweist sich Maeß’ faszinierender, leuchtender Text als eine große Verführung, deren einzige Lehre lautet: Hingabe!Placeholder infobox-1