Es gab einmal eine Zeit, da trug Literatur die großen Schlachten der Gesellschaft aus. Um 1900 etwa, in den kritischen Jahren eines bald auseinanderbrechenden Europas, hätte die Polarisierung der politisch-ästhetischen Entwürfe kaum dramatischer ausfallen können.
Dem Elitenkultus eines Stefan George stehen Naturalisten wie Gerhard Hauptmann entgegen, die das elende Leben der unteren Schichten einfangen. Andere Autoren, wie Jakob van Hoddis und Georg Trakl, verstricken sich unter den unheilvollen Vorzeichen der Moderne zwischen Industrialisierung, spiritueller Sinnkrise und Vorkriegsstimmung in apokalyptische Szenarien. Kurzum: Die Zeiten sind explosiv, ernst und zudem äußerst männlich. Schreiberinnen finden mit Ausnahmen kaum Gehör.
Dass es sie aber gibt und dass sie literarisch Beachtliches vorlegen, zeigt die just erschienene Werkausgabe der Texte Hermynia Zur Mühlens. Geboren 1883 in Wien, wächst die Adlige, die sich nie als solche auffassen will, in den Wirren der bald zerbrechenden k.u.k.-Monarchie auf, heiratet früh einen baltischen Großgrundbesitzer, in dessen Heimat sie das Ausmaß der menschlichen Armut derart erschüttert, dass sie sich nach der Scheidung der kommunistischen Bewegung anschließt.
Ihre Lautsprecher sind ihre Texte, getragen vom Impetus der Empörung über die soziale Ungerechtigkeit. Und was ist daran überraschend? Was neu, beispielsweise gegenüber einem Bertold Brecht, mögen Kritiker fragen. Und man darf antworten: alles. Statt die triste Realität der Abgehängten einfach nur abzubilden oder triviale Welterlösungsmanifeste zu verfassen, lässt sich die Schriftstellerin neben Romanen nämlich auf eine damals recht unzeitgemäße Gattung ein.
Relativierung ist Lüge
Sie schreibt Märchen, proletarische Märchen, wo sich Wunderliches zuträgt: Ein Kohlestück erzählt einem Jungen vom Leid der Minenarbeiter, ein junger Spatz macht sich auf den Weg über das Meer und durchbricht damit die Privilegien der Zugvögel, der sinnbildlichen Oberschicht-Vertreter, und auf einer utopischen Insel triumphieren die solidarischen Bewohner über den Privatbesitzwahn der Kapitalisten.
Zumindest in dieser luziden, Revolutionsgeist und Fantasiefreude einzigartig verbindenden Kurzprosa gibt es oft ein gutes Ende, eines, das nicht Literatur bleiben, sondern immer die Welt verändern will: „Volk, erhebe dich und erkämpfe dein Recht! […], bis auf Erden Gerechtigkeit herrscht und kein Mensch einen anderen […] unterdrückt“, ruft der Muezzin in der gleichnamigen Erzählung von 1927 den Menschen zu. Gegen die Willkür des Potentaten werden sie aufbegehren.
Denn die zerstörerische Dimension von Repression und ökonomischer Ausbeutung stellen für Hermynia Zur Mühlen keine Ansichtssache dar. Zu ihrer erfrischenden Radikalität gehört vielmehr die feste Überzeugung, dass die Relativierung von Armut und eklatanter Ungleichheit einer Lüge gleichkommt. Am bildgewaltigsten mutet daher auch ihr Text Das Schloß der Wahrheit (1924) an. Hell leuchtend auf einem Felsen vermittelt es allen die unbegründete Diskrepanz zwischen dem Leben der Verlierer und jenem der Wohlhabenden. Obwohl letztere mit aller Macht das Monument abzureißen versuchen, wirkt es als überzeitliches Mahnmal: „Das ist das Schloß der Wahrheit, das unzerstörbare, ewige Schloß, das auch dann noch stehen wird, wenn die Herrlichkeit und Macht der Reichen zu Ende ist.“
Zur Mühlens kindlich-naiver Sprachduktus steht im Zeichen einer reizvollen Ambivalenz: einerseits entführt er uns in einen Kosmos, wo Dinge und Tiere sprechen und festgefahrene Verhältnisse durch Magie aufgebrochen werden, andererseits dient er einer klar volkspädagogischen Mission, nämlich die Menschen mehr oder weniger metaphorisch über den bedenklichen Zustand der Wirklichkeit aufzuklären.
Kettenschwer im Kerker
Dieser Ansatz ist bewundernswert, weil er die politische Intention nicht auf Kosten der Ästhetik durchboxt, sondern ohne letztere keinerlei Geltung für sich reklamieren könnte. Märchen bergen für die Autorin Möglichkeitsdenken, das Potenzial zur Gegenweltlichkeit. Was einen an dieser Unerschrockenen heute so fasziniert, ist ihr Bekenntnis zur politischen Autorschaft – als Frau inmitten einer patriarchalen Gesellschaft und als Erzählerin von Märchen, die vielleicht eindeutiger als jeder Bericht eine Anklage an selbstgenügsame, egoistische Eliten formulieren. Es ist der Mut zur Haltung, der vorbildlich erscheint – gerade in Zeiten einer dekadenten Spätmoderne, deren Verschlafenheit dem Kampfesgeist der Rechtsnationalen hoffnungslos unterlegen zu sein scheint.
Die rote Baronin
Hermine Isabella Maria Viktoria Gräfin Folliot de Crenneville wird 1883 in Wien geboren. Teile der Kindheit verbringt sie bei der Großmutter, die, wie Ulrich Weinzierl vermutet, als Tochter eines Briten ihre liberale Gesinnung aus England importiert hatte und die Enkelin mit christlichem Sozialengagement prägte. 1908 heiratet sie gegen elterlichen Willen einen baltischen Gutsbesitzer. 1918 trennt sie sich. In Davos, wo sie ihre Tuberkulose behandeln lässt, trifft sie Stefan Isidor Klein. 1919 zieht man nach Frankfurt.
Zur Mühlen tritt in die DKP ein. Es sind Jahre umtriebiger schrifstellerischer und übersetzerischer Tätigkeit. Sie überträgt Upton Sinclair, verfasst Jugendbücher, Märchen, Essays, Erzählungen und Romane. Schupomann Müller (1924) bringt eine Anklage wegen Hochverrats. 1933 flieht das Paar nach Wien, wo Zur Mühlen zur Exilzeitschrift Neue Deutsche Blätter beiträgt, später nach England, wo sie 1951 stirbt. „Man kann sich nicht allabendlich in einem ausgeschnittenen Kleid an einen schön gedeckten Dinnertisch setzen und fühlen, dass ein schönes und gut gekochtes Dinner für den Augenblick das Wichtigste auf der Welt ist, ohne sich dem wirklichen Leben zu entfremden. Sind einem einmal rote Plüschmöbel als der Inbegriff des Grauens erschienen, so fällt es schwer, Menschen zu verstehen, denen diese Möbel der Sehnsucht bedeuten“, schreibt sie in ihrem „Lebensbuch“ Anfang und Ende von 1929.
In Der Deutschvölkische von 1924 zeigt Hermynia Zur Mühlen unmissverständlich auf, wohin Passivität und Unwissenheit führen können. Läuft hierin ein Arbeiter den Faschisten ins Netz, die sich mit ihren Feindbildern vom Juden und Kommunisten als dessen vermeintliche Interessensvertreter in Szene setzen, fühlt man sich unmissverständlich an Verführungsstrategien gegenwärtiger Demagogen erinnert – sind es für jene doch Geflüchtete, die den Deutschen immerzu die Arbeitsplätze strittig machen.
Brillant versteht sie scheinbar einfache Erzählweisen zu nutzen und zugleich komplexe Zusammenhänge aufzuzeigen. Dies betrifft im Kern die Entlarvung raffinierter Verschleierungsverfahren des Kapitalismus. So preisen die Besitzenden in einer Geschichte ihre Wundermauer, die den Armen den Zugang zum Reichtum verwehrt als das „Allerheiligste der Welt“ […] , wer sie beschädigt, der werde in alle Ewigkeit verdammt werden.“
Wer die kommunistische Schriftstellerin jedoch für eine Religionsverächterin hält, irrt. Denn sie ist Katholikin, nur eben eine, die den Missbrauch des Glaubens für unlautere Zwecke geißelt und das Christentum provokativ in einen sozialistisch-revolutionären Horizont rückt. In der Novelle Der rote Heiland von 1924 steigt Jesus vom Kreuz und konfrontiert den Pfarrer mit einer heuchlerischen Kirchenmoral. „Hundertmal“ sei er auferstanden, „in jedem, dessen Liebe stärker war als der Tod. In jedem Rebell, der kettenbeschwert im Kerker schmachtete, lebte ich. In jedem, den ihr an den Galgen hängtet, ward ich gekreuzigt.“
Das Arkanum trifft auf das Alltägliche, das Symbolische auf das Offensichtliche – Hermynia Zur Mühlens Werk geht den oftmals immensen Brüchen in der sozialen Tektonik nach, ohne je in ein ohnmächtiges Lamento zu verfallen. Indem sie in ihre Geschichten das Rätselhafte und Unerklärliche integriert, ruft sie uns zu: Es gibt noch Rettung. Doch jeder Aufbruch, so ihre Botschaft, benötigt den Glauben an die Wahrheit.
In Zeiten von Fake News bieten die Werke Hermynia Zur Mühlens ein erfrischendes und erhebendes Pathos. Es ist zu begrüßen, dass Ulrich Weinzierl sie nun im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung neu herausgegeben und so wieder leichter zugänglich gemacht hat. Die Texte zeugen – allen Reden von einer Alternativlosigkeit zum Trotz – von der Magie, die darin liegt, an die Veränderbarkeit der Welt eben doch jederzeit und unter allen Umständen zu glauben.
Info
Werke Hermynia Zur Mühlen Ulrich Weinzierl (Hg.) Eingeleitet mit einem Essay von Felicitas Hoppe, Zsolnay 2019, 4 Bände im Schuber, 2581 S., 49 €
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