Es gibt nur dieses Gesicht einer Frau, in dem sich sämtliche Höhen und Tiefen, aber vor allem die ungemeine Traurigkeit des Lebens offenbaren, gebannt auf eine überdimensionale Leinwand. Während wir im Schauspiel Zürich einen Großteil der Zeit über die sich stets verändernde Mimik der fantastischen Wiebke Mollenhauer beobachten, zirkulieren Halbsätze um sie herum – Fragmente, die sich teils in die Seele einbrennen: „Obwohl sie nicht erinnern kann, hat sie nicht vergessen“; „Ich trinke, bis mir schlecht ist“; „Du interessierst mich nicht“; „Ich hasse den Geruch meiner eigenen Familie“; „Ich will nicht allein sterben“; „Wenn Liebe käme“; „Eine Stimme in der W&
Wüste“; „Niemand, der mir hilft, auch nicht meine Mutter“; „Ich hasse die Worte, die mich am Leben lassen“. Vorgetragen werden sie von vier DarstellerInnen, geschrieben wurden sie einst von der Autorin Sarah Kane, die sich 1999 im Alter von 28 Jahren umbrachte.Was Kane mit ihrem nun neu und von Christopher Rüping überwältigend inszenierten Stück Gier schuf, ist weniger eine Story als ein Gedicht. Man denke sich aber konkret vielleicht dies: Eine Frau zieht durch die nächtliche Großstadt, und in ihren Gedanken verdichten sich zahllose Erfahrungen der menschlichen Existenz: Wie lässt man los, wenn man noch begehrt? Wie vergisst man, wenn die Vergangenheit nicht ruht? Wie kann man einen anderen lieben, wenn man sich selbst nicht gefunden hat? Und überhaupt: Wie kann man diese verfickte, gigantische Tragik unserer Welt ertragen?Die Protagonistin wehrt sich stumm gegen die GewaltDass es abseits dieser Grundfragen der Condition humaine auch um die Auseinandersetzung mit Facetten der Gewalt geht, wird deutlich, als sich Wiebke Mollenhauer nach vielen Tränen von ihrem Umfeld zu emanzipieren sucht – mit stummen Schreien des Wahnsinns, Lippenbewegungen zu Britney Spears Song Toxic oder indem sie die jedwede Verletzlichkeit einfangende Videofläche, die sie förmlich gefangen hielt, niederreißt und abtritt. Die auf die stumme Protagonistin projizierten Satzfetzen erweisen sich auf der Bühne nämlich ebenso als emotionaler Missbrauch.Dass Christopher Rüping Kanes Werk allerdings nicht als reine Sinfonie des Schreckens enden lässt, war zu erwarten. Schon in seiner legendären Dante-Annäherung Das neue Leben, in der er wie in Gier mit Popsongs und variablen Figurenprofilen spielte, gelang es ihm, inmitten der Dunkelheit poetische Momente der Schönheit aufzudecken. Hier nun etwa ganz am Schluss. Nachdem eben noch die vier Sprecherfiguren mit Pappköpfen Gesten diffuser Unordnung auf der Bühne vollführten, wie um die Rätselhaftigkeit des Stücks und des Schicksals gleichermaßen zu betonen, sehen wir erneut Mollenhauer.Diesmal folgt ihr eine Kamera beim Run durch Zürich. Er endet mit einem losgelösten Tauchgang im kalten See. Unterlegt wird dieser Lauf in die Freiheit live mit schwebender Streicher- und Synthesizermusik, die dem gesamten Abend schon Rhythmik und Stimmung verlieh. Manche von Rüpings Bildern muten grotesk an, andere reichen so nah an das echte Dasein heran, dass es unsagbar wehtut. Schmerz und Verzweiflung werden physisch spürbar. Missen wollen wir diese wenig erbauliche Mixtur indes nicht. Eine solche Intensität, wie sie nur wenige Regisseure erzeugen können, erfordert nichts anderes als pure Hingabe.Placeholder infobox-1