Halte mich fest

Langgedichte Er sieht tote Menschen: In Christoph Meckels Lyrik verschwimmen Fantasie und Realität
Ausgabe 49/2017

Wenn Blinde sehen können, hat uns das Fantastische längst eingeholt. Vom Reich der Imagination ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Literatur und Mythologie. Am bekanntesten dürfte wohl die Figur des Teiresias sein, der, obwohl er kein Sehvermögen besaß, dennoch Zeus ein guter Prophet gewesen sein soll. Nun greift auch der Dichter Christoph Meckel in seinem zwei Langgedichte vereinenden Band Kein Anfang und kein Ende auf den legendären Typus des Blinden zurück.

Letzterer ist per se ein Träumer, weil er sich die Bilder von der Außenwelt stets selbst erschaffen muss. Unterstützung erhält er in dem ersten Poem namens Dunkelstrecke durch einen jungen Begleiter. Immer wieder stellt er an ihn dieselbe Frage: „Was siehst du?“ Daraufhin antwortet sein Helfer etwa: „Schwer zu erkennen, / weit auf dem Wasser liegt ein Schiff, es wird beschossen / (und draußen liegt kein Schiff, nichts wird beschossen …)“.

Was Meckel in solcherlei Dialogen zum Ausdruck bringt, lässt sich als eine spannungsvolle Differenz beschreiben, nämlich zwischen Realität und Fiktion, zwischen Wahrheit und Glaube. Unfähig, die Farben und Konturen der Welt selbst wahrzunehmen, muss sich der Blinde ganz auf seine Vorstellungskraft verlassen, wodurch er zugleich zur poetischen Figur schlechthin avanciert. In seinem inneren Kosmos – wie auch in jedem Gedicht – gibt es keine Grenzen. Dort können Feuervögel in Gebirge stürzen und den Schnee aufwirbeln, dort können Worte um Hilfe rufen.

Dadurch berührt der 1935 geborene Autor den Kern, der Lyrik ausmacht. Sie vermag ganz im utopischen Sinne das Unmögliche möglich zu machen. In ihr verschmelzen Erinnerung und Traum zu einer eigenen, losgelösten und inneren Wirklichkeit. Wir erfahren von dem jungen Mann, „wie viel Teil des Gegebenen Schöpfung, / verwüstet wurde“. Was objektiv als verloren gilt, vermag im Geist, ja, in der Poesie selbst wieder neu zu entstehen. Die Fantasiewelt wird damit zum Möglichkeitsraum.

Anmutiges Pathos

Dass dieser bisweilen entlegene Ort grundsätzlich auch auf ein Gegenüber, auf Impulse von außen angewiesen ist, macht die eigenartige Beziehung zwischen dem Alten, der nicht sehen kann, und seinem Lotsen aus. Gemeinsam befinden sie sich auf einer Reise, wahrscheinlich quer durch Amerika. Der Erfahrene bietet Orientierung und eine Aufgabe, sein Begleiter leiht ihm dafür sein Auge.

Beide eint die Bewegung. Denn „sesshaft in der verbrauchten Welt, das ist unzumutbar“, lautet die Botschaft des Gedichts. Und so reißt uns der reichhaltige sprachliche Strom Meckels mit. Zeilensprünge erzeugen einen regelrechten Flow, in dem wir gleiten. Erfrischend mutet dabei an, dass in den Sätzen und Bildern nur wenige ironische Brechungen vorkommen. Stattdessen leben die Verse von einem anmutigen Pathos, von der Wahrhaftigkeit des Augenblicks.

Dies gilt auch für das zweite Poem dieses Buches. Nunmehr wird von der Liebe erzählt: „Zwei lagen im Gras, es roch stark und rein wie Gras / und die Bäume am vierten Tag der Schöpfung.“ Beide sind wiederum Reisende, die es in eine Geisterstadt verschlägt. Während man „in den Weltfluchtvierteln“ verseuchter Gewässer und Schlachthofgestank gewahr wird, sieht der Leser in dem Paar den letzten Rest von Schönheit und Licht. Um sie herum nichts als Tote, die wie im ersten Text eine besondere Form des Sehens einfordern. Wer kann sie wahrnehmen? Wer kann mit ihnen kommunizieren?

Hinter das Offensichtliche zu schauen und dort eine tiefere Wahrheit zu erkennen – darin besteht der Anspruch von Meckels ästhetischem Programm, das im Übrigen sehr an Rainer Maria Rilkes Verständnis von Dichtung rührt. Inmitten der Depressionsstimmung um die Jahrhundertwende schrieb auch er über ein neues Sehen, eine Erkenntnisfähigkeit, die hinter der realen eine weitere Welt zu erschließen weiß, eine Welt, in der wie in den Duineser Elegien zum Beispiel Lebende und Tote miteinander vereint sind. Ebenso stehen die Texte aus Kein Anfang und kein Ende im Zeichen der Verbindung von Gegensätzen. Antithesen wie „Flut und Feuern“ oder „Alles und nichts“ umrahmen einen Kosmos, dessen Vitalität sich gerade im dauernden Widerstreit der Kräfte kundtut. Dadurch werden Grenzen fragil: „RAUM UND ZEIT WAREN DURCHEINANDER / GEFALLEN“.

Als die Geliebte im Gedicht schließlich stirbt, bleibt ein schmales Band der Kommunikation bestehen. Flehend ruft sie dem Zurückgebliebenen zu: „Halte mich fest in dem Bild / das du von mir gemacht hast / für dich und für mich.“ Er hört die Stimmen der Toten und hat gelernt, über das Diesseits hinwegzugehen. So endet dieser bewegende Text auch im treffenden Bild des gemeinsamen Davonfliegens.

Entstanden sind zwei konzentrierte Langgedichte, welche die sichtbaren und unsichtbaren Weiten unseres Daseins vermessen. Es gibt darin weder einen Anfang noch ein Ende. Meckels Poeme bilden die reinste Form von Gegenwart ab. Sie feiern den Augenblick, in dem sich Vergangenheit und Zukunft, aber auch Fantasie und Realität kreuzen – und der Leser ist mittendrin: überwältigt und ergriffen.

Info

Kein Anfang und kein Ende Christoph Meckel Hanser 2017, 96 S., 18 €

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