Die großen Klassiker, in denen es um alles oder nichts geht, sind seine Passion. Mit Schiller, Büchner und Ibsen eroberte Roger Vontobel in den letzten Jahren die deutschsprachigen Bühnen. Ihre Werke seien, wie der Regisseur in einem Gespräch äußert, stets eine „Entdeckungsreise“. Gleich einem Archäologen müsse man in ihnen „graben und Schichten freilegen“. Zu den Verdiensten des 1977 in Zürich geborenen Schweizers zählt, dass er den Rahmen der kanonischen Dramen nie überstrapaziert. Nichts ist ihm ferner als modernistische Effekthascherei oder Pseudoavantgardismus. „Überhaupt mag ich nicht, wenn etwas plakativ wird. Man erweckt dann den Eindruck, als hätte man einfache Antworten, ich jedenfalls will keine Antworten geben.“ Stattdessen gelte es, Fragen zu stellen, an den Text und an das Publikum. Und dies in einer zumeist zeitlosen Aufführungspraxis.
Im Fokus steht immer wieder das Urmenschliche, die Dynamik von Affekten, die sich in Wut, Gier oder Liebe und Leidenschaft niederschlägt. Wie schnell dabei das Gebäude der Zivilisation einstürzen kann, zeigte Vontobel etwa in seiner letztjährigen Inszenierung auf den Nibelungenfestspielen. Die maßlose Rache des Hunnenkönigs Etzel wird durch langsam aus dem Bühnenboden hervortretendes Blut gezeigt – begleitet von archaischem Kehlengesang.
Nun nimmt sich der Regisseur eines Dramatikers an, der seit einiger Zeit wieder verstärkt Aufmerksamkeit durch die Theatermacher erfährt. Die Rede ist von Gerhart Hauptmann, dem Großmeister des deutschen Naturalismus, dem Kartografen der schonungslosen Wirklichkeit, an dem sich um 1900 verschiedene Bewegungen, angefangen bei den Ästhetizisten wie George bis hin zu den Symbolisten wie Rilke, direkt oder indirekt abarbeiten sollten. Lange war der in 1862 geborene Gastwirtssohn aus dem schlesischen Salzbrunn eher verpönt, auch wegen seiner zwielichtigen Haltung zum Naziregime. Was begründet also seine Renaissance? In Vontobels Inszenierung des Stücks Vor Sonnenaufgang, dem eine großartige Bearbeitung durch Ewald Palmetshofer zugrunde liegt, lässt sich schnell eine Antwort finden. Es ist die radikale Darstellung dysfunktionaler Konstellationen, das Durchdringen der bürgerlichen Fassade, hinter der Lebenslügen, Depression, ja, sämtliche Abgründe der Existenz hervortreten.
Eingefasst von monochrom grauen Wänden führt auf der Bühne des Frankfurter Schauspielhauses eine zum Fluchtpunkt schmaler werdende Holztreppe steil nach oben. Ähnlich Yasmina Rezas Der Gott des Gemetzels oder Edward Albees Zerfleischungsdrama Wer hat Angst vor Virginia Woolf …? lässt auch in diesem Setting der übermäßige Konsum von Spirituosen, befindlich auf einem überdimensionierten Barwagen, im Laufe einer Nacht alte und verdrängte Wunden aufquellen – am Ende fließt Blut am Kleid von Martha (Patrycia Ziolkowska) herab.
Wie nach einem Requiem
Auslöser für das Mittelschichtsdrama ist der Besuch eines alten Studienfreundes im Hause Hoffmann. In dessen Spiegel entlarvt sich der verdorbene Charakter des schillernden Unternehmers Thomas. Um seiner verkorksten Ehe zu entfliehen, flüchtet sich derweil sein Schwiegervater in eine Sauftour. Gipfeln wird die Tragödie in einer Fehlgeburt, die seine hochdepressive Tochter Martha am Ende erleidet. Begleitet wird das Drama von einem Cellisten und einer Sängerin (Alina Huppertz), welche mit ihren elegischen Liedern jenseits des galligen Sarkasmus der Figuren eine dunkle Atmosphäre hervorruft. Als Verkörperung „der Krankheit“ der Familie ist sie zuletzt selbst im sich verfinsternden Bühnengeschehen präsent. Woran wir teilhaben, ist Archaik pur. Vontobel setzt ganz auf minimalistische Requisite, allein die inneren Kämpfe der Figuren sollen sich entfalten. So entsteht intensives Regietheater, das derart unter die Haut geht, dass es noch Tage danach in uns nachbebt.
Palmetshofer gelingt es dabei, Hauptmanns Figuren in die Gegenwart zu holen, den Sprachduktus der Jetztzeit anzupassen. Oder, anders als im Original, den Frauen Martha und Helene eine starke Stimme zu geben. Dagegen wurden zentrale Monologe unverändert übernommen. Gerade dieser Kontrast zusammen mit überragenden Schauspielern wirkt hyperauthentisch und unmittelbar. Ein eskalierender Disput zwischen Marthas Mann Thomas und dem Besucher Alfred, seinerseits Journalist einer linken Wochenzeitung, markiert einen solchen Höhepunkt. Nachdem sich Ersterer darin bald schon als misanthropischer „Geschichtenerzähler“ der neuen Rechten zu erkennen gibt, äußert sich der Journalist besorgt über die Polarisierung der Bevölkerung: „Wir driften auseinander“, lautet dessen zweifelsohne auf den erstarkenden Rechtspopulismus bezogene Analyse.
Am Ende lässt Vontobel keine falschen Hoffnungen aufkommen. Die Beklemmung ist unmittelbar spürbar. Wie nach einem Requiem merkt man dem Applaus die Verstörung an, die diese Inzenierung ausgelöst hat. Selbst die Schauspieler wirken bei den Verneigungen irgendwie benommen. Jenes echte drastische Pathos ist der Ernsthaftigkeit unserer gegenwärtigen Lage angemessen. Man erschaudert über dieses Theater, das so ganz Realwelt geworden ist.
Info
Vor Sonnenaufgang Roger Vontobel (Regie), nach Gerhart Hauptmann von Ewald Palmetshofer, Schauspielhaus Frankfurt
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