Hand aufs Herz, wie oft rührt einen ein Buch schon zu Tränen? Wahrscheinlich kann man diese Augenblicke im Laufe der Jahre an einer Hand abzählen. Maike Wetzels Roman Schwebende Brücken gehört zweifelsohne zu jenen seltenen, existenziell aufrüttelnden Büchern. Mit jeder Seite geht es tiefer unter die Haut, wohl auch, weil sich die markante Schlüsselszene des Textes mit lediglich nuancierten Veränderungen mehrfach, geradezu mantraartig wiederholt: Eine Familie verbringt den Tag am Oberuckersee. Während sie einen der beiden Söhne noch auf der Picknickdecke stillt, fährt ihr Mann mit seinem Segelboot hinaus – und kehrt nicht mehr lebend zurück.
Wie geht man um mit diesem Verlust? Ausgehend von diesem autobiografischen Todes
biografischen Todesfall schildert die 1974 in Groß-Gerau geborene Schriftstellerin Tage danach im Zeichen einer schier unaushaltbaren Leere. Sie beschreibt, wie sie ihr Pflichtgefühl aufrecht hält und wie die Zeit in einen Stillstand übergeht. Sie dokumentiert, wie eines ihrer Kinder (im Gegensatz zu ihr) die unmögliche Begebenheit nur akzeptieren kann, indem es vom aufgeschwommenen Leichnam im Sarg Abschied nimmt. Statt sichtbarer Zusammenbrüche werden wir bei der Witwe zahlreicher leiser, innerer Schreie gewahr, der nur eines geblieben ist: die Erinnerung an einen einstigen Lebemann, an einen feinsinnigen Architekten und Feierzampano, einen hingebungsvollen Vater und Verzweiflungstrinker gleichermaßen. Er ist da, im stets angesprochenen Du und nicht zuletzt in der literarischen Geschichte selbst.Wenn im Abgrund der Trauer etwas Halt bietet, dann eben die Erzählung. Umso mehr hangelt sich Wetzel – übrigens sehr ähnlich wie ihre Autorkollegin Olga Martynova, die sich in Gespräch über die Trauer ebenso in diesem Herbst mit dem Tod ihres Partners auseinandersetzt (Text links) – an großen Mythen und Stoffen entlang. Anfangs sucht sie noch im „Labyrinth unserer Geschichte“ den Ariadnefaden. Mitunter führt er sie zum Schriftstellerpaar Ted Hughes und Sylvia Plath, die schwer depressiv den Suizid wählt. Oder natürlich zur größten Love Story überhaupt, nämlich Orpheus und Eurydike. Schreibt die Autorin in ihrer Danksagung: „Und mit dir, Nils, ist dies und alles möglich. Ich danke dir für deine Liebe“, so bedient sie sich gänzlich der Methode des griechischen Halbgotts. Um zu seiner im Hades festsitzenden Gefährtin zu kommen, kann er nur auf die Kunst, den die Herren des Olymps milde stimmenden Gesang zurückgreifen. Abgesehen vom letztlich tragischen Ende der beiden antiken Figuren ist so aus deren Leiden etwas Bleibendes hervorgegangen. Ähnliches bei Wetzel: „Am besten lasse ich dich gar nicht erst untergehen. Ich halte dich am Leben mit meinen dunklen Liedern. Wie Orpheus bin ich jetzt ein singender Kopf. Dein Tod hat mich auf die andere Seite gestellt.“ Dort gründet die Dichtung. Einerseits gewährt sie einen Rahmen im buchstäblich uferlosen Dasein, andererseits eröffnet sie die Möglichkeit, zumindest für Augenblicke einen Widerstand gegen die beklemmende Realität zu leisten.Hoffnung, hier und da„Unsere gesamte Existenz fußt auf Fiktion“, die unvorhersehbare, gar tröstliche Wendungen zulässt. Allen voran der fulminante Schluss in Schwebende Brücken bringt dieses dynamische Momentum zum Ausdruck. Er parallelisiert die letzten Minuten des Ertrinkens des Mannes auf dem See mit der schmerzvollen, aber erfüllenden Geburt ihres zweiten Sohnes. Im einen Fall bringt das Wasser als verbindendes Motiv den Tod, im anderen schwemmt es den Leben schenkenden Körper auf. Alles scheint nun – für einen kurzen Atemzug der Lektüre – im Gleichgewicht gehalten. Statt als abgeschlossene Phase erscheint die menschliche Existenz als Schwellenraum, mit allerlei Unwägbarkeiten und hier und da einem Aufleuchten der Hoffnung. So weise zu denken und zu schreiben, setzt Stärke voraus. Die hat Wetzel mehr als bewiesen und dabei eine so formbewusste wie zärtliche Elegie geschaffen.Placeholder infobox-1