Theaterfestival „Remmidemmi“ in Heidelberg: Rebellion am Neckar

Theater Zehn Uraufführungen an drei Tagen: Das Theater Heidelberg lotet Möglichkeiten des Widerstands aus. Nicht immer ästhetisch geglückt, aber durchaus imposant
Ausgabe 41/2022
Sissi Reichenbrugger (Prudentia), Nora Quest (Iustitia), Sandra Bezler (Fortitudo), Lisa Förster (Temperantia)
Sissi Reichenbrugger (Prudentia), Nora Quest (Iustitia), Sandra Bezler (Fortitudo), Lisa Förster (Temperantia)

Foto: Susanne Reichardt

Es tobt und kracht im ansonsten so beschaulichen Heidelberg. Das stets umtriebige dortige Theater hat sich den Widerstand auf die Fahnen geschrieben. In unfassbaren zehn Uraufführungen an drei Tagen, die alle in den Regelspielplan integriert werden, geht es sämtlichen Formen des Protests auf den Grund. Dass man auch bei diesem Festival unter dem Titel Remmidemmi auf aktivistische Bühnenkunst trifft, war zu erwarten. Aber das Programm versammelt glücklicherweise weit mehr als jene Belehrungsperformances, wie wir sie aus so vielen Stücken unserer Zeit kennen.

Dem verbissenen Ernst so mancher Dogmatiker setzt etwa Rebekka Kricheldorf geballten Sarkasmus entgegen. In Die Gute sehen sich die von vier Schauspielerinnen flamboyant in Szene gesetzten Kardinaltugenden mit ihrem zunehmenden Mangel in der Realität auseinander. Die gänzlich in Blau gekleidete Justitia (Nora Quest) klagt angesichts der herrschenden Ungerechtigkeit unter den Menschen darüber, dass ihr „seit Jahren dreist ins Gesicht gekotzt“ werde, die in Grün auftretende Prudentia (Klugheit; Sissi Reichenbrugger) ringt derweil mit dem Missbrauch der Vernunft und der Bigotterie, weswegen sie passend mit einem zweiten Gesicht auf ihrer Rückseite dargestellt wird. Derweil bricht das Verdrängte aus Temperantia (Johanna Dähler, Lisa Förster) heraus. Schluss mit dem Maßhalten! Sie will „Kaviar von unglücklichen Fischen“, sie will geil sein und Altherrensprüche genießen und haut sich kurzum Spaghetti aus dem Automaten rein. Sind die Menschen aus diesem verkommenen Dasein noch zu retten? Der Schokobrunnen in der Mitte der Bühne scheint auf einen drohenden Sieg der Sündhaftigkeit hinzuweisen.

Geht man nach einem anderen Stück, Das Licht der Welt von Raphaela Bardutzky, lautet die Antwort jedoch: Ja! Aber eben nur mit der Kraft des Aufbegehrens. Der Widerstand richtet sich hier nicht gegen zu viel, sondern zu wenig Moral. Auf Proteste gegen das Abholzen von Wäldern für die Kohleförderung anspielend, errichten die Protagonisten ein Camp auf der Bühne, mit Plane und Steigen – und entwerfen eine Agenda der Boykotte. Die Klangkulisse aus Songs und Gitarrenstücken evoziert die melancholische Atmosphäre vor dem drohenden Klimakollaps. Als eine der Rebellinnen schwanger wird, stellt sich die Frage nach der Zukunft gänzlich neu: Trägt ein Kind nur zu einer weiteren Belastung des Planeten bei oder ist nicht alle Mühe um einen Wandel der Verhältnisse in der Idee begründet, die Erde eben für die Generationen von morgen zu schützen?

Rumstehen in Treppenfluren

Bardutzkys Text erzählt wenig Neues, überzeugt aber mit starken Szenen – im Gegensatz zu manch anderen Darbietungen. Neben Philipp Löhles eher lauer Rekapitulation des RAF-Terrors Heidelberg 72ff. erweist sich die Audiotour Die Nacht verdeckt den Morgen als ästhetischer Tiefpunkt des insgesamt mitreißenden Spektakelreigens. Obwohl Oksana Sawtschenkos autobiografische Geschichte ihrer Flucht aus der Ukraine als solche jedem zu Herzen geht, löst die Inszenierung als Spaziergang mit Kopfhörern den Gehalt des Textes kaum ein. Während ergreifender Passagen muss das Publikum in Parkhausgängen, auf Treppenfluren und in kalten Gewölben herumstehen. Klar, all diese Settings spiegeln das Verlorensein an irgendwelchen Nicht-Orten wider. Aber sich seitens der Regie (Dorothea Schroeder) allein darauf auszuruhen, bedeutet schlichtweg: Einfallslosigkeit als Konzept.

Dass Widerstand übrigens auch einfach nur schön sein kann, beweist Roland Schimmelpfennigs Adaption von Hans Christian Andersens Das Märchen von der kleinen Meerjungfrau. Die Arbeitswelt hinter sich lassend, realisieren drei Jugendliche ihren Wunsch, in das Unterwasserreich einzutauchen. Mit reichlich Fantasie fabulieren sie über Tiefseeschlösser und das Treiben der Fische; im Zusammenspiel mit dem zauberhaften Song Welle um Welle von Lina Maly entwickelt sich eine Traumreise. Das ihr innewohnende Aufbegehren richtet sich nicht gegen eine spezifische Politik, sondern gegen unser Verharren in der Realität.

Remmidemmi wirbelt also Fantastisches und allerlei Diskurs- und Krisenthemen unserer Gegenwart durcheinander und zeigt dabei auf imposante Weise: Das Neue entsteht nicht im luftleeren Raum. Sein Quell ist immer die Kunst, die sich mit Mut ins Ungewisse stürzt.

Alle beim Festival Remmidemmi gezeigten Stücke werden auch regulär am Theater und Orchester Heidelberg zu sehen sein

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