Von der Ohnmacht

Gesellschaft Drei Romane über angepasste Leute und von anderen, die plötzlich zu Rebellen werden
Ausgabe 36/2017

Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Bereits im ersten Wort dieses berühmten Einleitungssatzes aus Franz Kafkas Romanfragment Der Prozess liegt die Anonymität begründet, welche die Machtverhältnisse in der Moderne prägt. Gesetze werden gefühlt im Irgendwo erlassen. Wer im Nachhinein dafür Verantwortung trägt, ist für den Bürger am unteren Rand der Hierarchiekette nur schwer zu rekonstruieren. Wenn etwa EU-Institutionen immer wieder mit Ufos und fremden Planeten assoziiert werden, zeigt sich Macht vor allem unter den Vorzeichen des Abstrakten und Undurchsichtigen. Ähnlich Josef K. weiß auch der heutige Mensch oftmals nicht richtig, das System, das ihn reguliert, zu durchschauen.

Wie Kafkas Werk belegt, vermag insbesondere die Literatur jenes Beziehungsfeld aus Einfluss, Druck und Kontrolle differenziert und anschaulich zu vermessen. Wohingegen noch bis in das 19. Jahrhundert hinein allen voran Amt und Würde, Adel und Aristokratie die Zügel in der Hand hielten, ist mittlerweile das Kapital zum entscheidenden Träger von Macht avanciert. Madeleine Prahs’ Roman Die Letzten offenbart die geheime Macht des Geldes, das unmittelbar die Lebensverhältnisse der ganz normalen Leute verändert. Obwohl ihre Figuren auf den ersten Blick recht wenig mit Hippies oder linken Revoluzzern gemein haben, werden diese aus der Not heraus zu Hausbesetzern.

Hausbesetzer aus Not

Mit stets individueller Stilnote taucht der Erzähler dabei abwechselnd in die Psychen dreier Charaktere ein, die trotz aller gegenseitiger Animositäten eines eint: Sie müssen gehen und ihr inzwischen schon in die Jahre gekommenes Mehrparteienhaus räumen. Aus einer anfangs verkrachten Nachbarschaft heraus entsteht mit einem Mal ein funktionierendes Zweckbündnis.

Eine verwirrte Rentnerin im vorangeschrittenen Krebsstadium, eine kiffende Endzwanzigerin und ein Arbeitsloser, der seinen Schmerz über die Trennung von seiner Exfreundin regelmäßig mit Alkohol begießt, treten den Kampf gegen den ominösen Vermieter Grube an. Erst wird der Immobilienbesitzer zur Geisel, dann zur Leiche, die es schließlich mit erheblicher krimineller Energie wegzuschaffen gilt. Indem Prahs diesen Antagonisten lediglich vage beschreibt und überhaupt erst spät als Person einführt, zeichnet auch sie die kaum noch sichtbaren Verbindungslinien zwischen den Herrschenden und Beherrschten nach. Nun ja, 300 Seiten hätte es dafür nicht gebraucht. Davon allerdings abgesehen ist der Autorin eine leichtfüßig verfasste wie schwarzhumorige Mikrostudie über Unterdrückung und zivilen Ungehorsam gelungen. Sie zeigt die psychologischen Effekte von Einfluss und Verfügungsgewalt, die im günstigsten Fall zu einer Solidarisierung der Betroffenen führen.

Weniger glimpflich geht es für den Antihelden in Anna-Elisabeth Mayers auf einer wahren Begebenheit beruhenden Roman Am Himmel aus. Gezeichnet wird das düstere Bild einer Feudalgesellschaft. Oben steht der klassischerweise männliche Patriarch, unten das Gesinde. Die Story lässt sich schnell erzählen: Nachdem Baron Sothen durch eine eigene Lotterie in die Welt der Reichen und Schönen aufsteigt, feiert ihn die Öffentlichkeit als schillernde Lichtgestalt. Seine Angestellten bekommen davon jedoch wenig mit. Im Gegenteil, das Prinzip des Großgrundbesitzers lautet: Repression aus Kalkül. Nach Jahren der Zermürbung trifft die Willkür auch dessen Forstwirt, den der Ausbeuter kurzerhand mit Kind und Kegel auf die Straße setzt.

Macht stellt „jede Chance (dar), innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“, so Max Weber. Als Voraussetzung erweist sich allerdings deren soziale Anerkennung. Als der „Hüttler“ in Anna-Elisabeth Mayers Werk aus Verzweiflung seinen Herrn erschießt, zeigt sich, wie fragil der Sockel unlängst geworden ist, auf dem Sothen sein Sklavenregime aufgebaut hat. Proteste begleiten seine Beerdigung, denn die Sympathie der unteren Schichten liegt eindeutig aufseiten des am Ende zu Tode verurteilten Täters.

Warum dieser historisch weit zurückliegende Kriminalfall zur jetzigen Zeit literarisch aufgegriffen wird, erschließt sich dem Leser nicht. Gleichwohl bringt der ansonsten allzu konventionell erzählte Roman ein zeitloses Wesensmerkmal der Macht wunderbar auf Ebene der Form zum Ausdruck. Immer wieder stellt Mayer die Differenz zwischen Sagen und Denken aus, wodurch das widersprüchliche Wechselspiel zwischen Innen- und Außenraum der Figuren zutage tritt.

Ob Sothen oder seine Untergebenen – sie alle spielen ihre Rollen innerhalb eines festgelegten sozialen Systems und verbergen ihre eigentlichen Intentionen. Erst recht, wenn es um Fragen der Herrschaft und Politik geht. Wer Einfluss geltend macht, steht in der Öffentlichkeit und muss über unterschiedliche Sprachcodes verfügen. Der Theoretiker politischer Herrschaft, Niccolò Machiavelli, schrieb einmal: „Man darf nie seine Absicht zeigen, sondern man muss vorher mit allen Mitteln versuchen, sein Ziel zu erreichen.“ Auch Mayers ungeliebter Adelsvertreter weiß eindrucksvoll seine Janusköpfigkeit in Szene zu setzen: auf der einen Seite die leuchtende Wohltätergestalt, auf der anderen der Sklaventreiber, dort der Prediger der Political Correctness, hier der typisch skrupellose Usurpator.

In Simon Strauß’ grandiosem Debüt Sieben Nächte, dem Generationenroman der aktuellen Endzwanziger schlechthin, wird eine solch klare und sichtbare Machtordnung als völlig anachronistisch bezeichnet. Auf einem nächtlichen Streifzug trifft sein Ich-Erzähler auf alte Podeste der Verkehrspolizei. Sie stünden „da wie letzte Zeugen einer Zeit, in der Autorität noch eine Frage der Form war“. Geblieben ist fünfzig Jahre nach der 68er-Revolte davon nichts mehr. Vielmehr bestimmt das Lebensgefühl der heute Heranwachsenden die große Freiheit, die, wie dieses Buch immer wieder darlegt, einer Verlorenheit gleicht.

Simon Strauß, Sohn von Botho Strauß und junger Nachfolger des FAZ-Theaterkritikers Gerhard Stadelmaier, stellt dar, wie Macht sich gegenwärtig vor allem indirekt, aber umso wirksamer zeigt. Denn wer aus der Gemeinde der „Sympathiesüchtigen“ nach oben will, muss sich durchwinden und im Duckmäusertum üben, muss im Mühlrad der Institutionen bereit sein, sich „einzupassen, ein Leben still zu halten“. Die grauenvolle Vision des Protagonisten ist daher klar: „Ordnung wird herrschen und ich ein Untergebener meines Ehrgeizes sein“, der wiederum von der Leistungsgesellschaft induziert zu sein scheint.

Was braucht es also, um am Ende nicht aalglatt, aller Individualität entledigt zu sein? Vor allem Mut, zum Anderssein, Mut zu Gefühlen und Standfestigkeit, Mut zur Persönlichkeit. „Die Welt braucht mich so dringend. Ich müsste nur an die Macht kommen“, ruft es uns aus diesem starken Essayroman über eine verlegene und allzu anpassungsfähige Generation entgegen. Ein bisschen Aufbegehren gegen Eliten und die Alten darf es somit schon sein.

Alle drei Werke fordern letztlich den Kritiker und Protestler in uns heraus und geben Literatur als das Medium zu erkennen, in dem sich wohl am besten über Macht reflektieren lässt. In ihr lassen sich Verhältnisse sezieren und dekonstruieren, sie sensibilisiert für verfestigte Strukturen, spielt mit Stereotypen wie gerade dem weißen, heterosexuellen Mann, der zumeist als Hauptträger der Macht erscheint. Zudem entwickeln Romane alternative Weltentwürfe, ja neue Möglichkeitshorizonte jenseits einfacher Herr-Knecht-Beziehungen. So birgt etwa Madeleine Prahs’ Haus, welches sich spät als der Erzähler des Werks herausstellt, die Utopie einer egalitären Gemeinschaft. Mit dem Verschwinden des Immobilienhais geht die Auflösung der Besitzlogik einher. „Die Letzten“ werden zu den Ersten, legen die Basis für einen Neubeginn. Die Macht, die sich die Bewohner des Gebäudes zurückerobern, erweist sich ferner als eine höchst produktive.

Nietzsche verstand beispielsweise seinen Willen zur Macht ebenso als einen Willen zum Machen. Einfluss muss also nicht per se schlecht sein. Er ist zuvorderst eine Frage der Verantwortung.

Info

Die Letzten Madeleine Prahs dtv Verlag 2017, 304 S., 21 €

Am Himmel Anna-Elisabeth Mayer Schöffling & Co 2017, 204 S., 20 €

Sieben Nächte Simon Strauß Blumenbar 2017, 144 S., 16 €

Björn Hayer arbeitet als Literaturkritiker und Dozent für Germanistik an der Universität Koblenz-Landau

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