Woran wir alle kranken

Bühne Zwischen Tabubruch und Wehklage: Der Heidelberger Stückemarkt zeigt, woran es in der Gesellschaft hapert
Ausgabe 19/2021

Auf der Bühne wird das Unsagbare sagbar. Tabus fallen, nicht als Selbstzweck, sondern im besten Fall zur Erweiterung unserer Sichtweisen. Vielleicht lässt sich die Entgrenzung als ein Leitmotiv des Heidelberger Stückemarkts benennen, der nach einer Zwangspause im vorigen Jahr nun zumindest digital stattfinden konnte.

Regelrecht krachen lässt es das Gewinnerstück des AutorInnenwettbewerbs, Maria Magda von Svenja Viola Bungarten. Was sich dieses radikal-mutige Drama über das Leben junger ProtagonistInnen in einem Klosterinternat auf die Fahne schreibt, ist eine Kampfansage an katholischen Chauvinismus. Gerade die männliche Dominanz in christlichen Urmythen wird schonungslos zerlegt. Mithin erscheint der sich zu Wort meldende Vater im Himmel als übelster Sexist: „Maria, du kleine Bitch. Weil ich ein Gott bin, werde ich dich vergewaltigen. Du wirst sagen, du seist Jungfrau. Und es wird stimmen, denn ich bin ein Gott und mein Schwanz kann dich nicht beflecken, dafür ist er viel zu groß und viel zu rein. Du wirst schwanger werden und einen Sohn mit einem gekrönten Kopf aus deiner Fotze pressen.“

Doch längst nicht alle Werke, die man in dieser Woche bei Lesungen oder auf der Bühne kennenlernen konnte, erweisen sich in ihren Brüchen mit der Konvention als derart anklagend. An Tabus arbeiten sich aber auch die nachdenklichen Inszenierungen mit leiserer Tonalität ab. So zum Beispiel in dem dokumentarischen Stück Wir haben getan, was wir konnten, geschrieben und arrangiert von Tuğsal Moğul. Hierin erzählt unter anderem ein Anästhesist offen von seiner endlosen Überarbeitung und seinen Sinnfragen. Wie fühlt man sich etwa, wenn man einem Alkoholiker, der immer wieder kommt, nach 20 Stunden Dienst wieder einmal die Leber retten soll? Und wie konnte das vorbildliche deutsche Medizinwesen über Jahre hinweg die Serienmorde des profilierungssüchtigen Pflegers Niels Högel zulassen, der überdies hier noch einen schauerlichen Monolog hält? Um der Zusammenstellung unterschiedlichster Stimmen aus dem Mikrokosmos Krankenhaus Geltung zu verschaffen, wählt der Regisseur ein bewusst anachronistisches Setting. So tragen die SchauspielerInnen zu elegischen Interludien von Henry Purcell Barockkostüme. Moğul selbst erläuterte im Nachgespräch, es ginge ihm bei diesem Design darum, auf der Folie des Zeitalters des Theatrum mundi und des großen Scheins die brüchige Patina des deutschen Gesundheitssystems zu bebildern. Gelungen! – kann man nur sagen.

Politisch, wie es Brecht gefällt

Übrigens fallen gleich mehrere Texte im Wettbewerb durch ihre Verhandlung von Krankheiten auf. Fischer Fritz von Raphaela Bardutzky gibt kund von einem Leben nach einem Hirninfarkt, derweil gewährt uns Wilke Weermann mit Hypnos, einem kongenialen Stück über die Grenze von Traum und Realität, Einblicke in das mögliche innere Dasein einer Komapatientin. Neben der Debatte um Pflege und Lebensqualität wirft das Stück unterschwellig auch die Frage nach der Sterbehilfe auf und führt dabei an Randzonen eines schwierigen gesellschaftlichen Diskurses. Und schließlich gibt es noch eine App, die in die verschlossenen Gedanken der Erkrankten einzudringen versucht.

Apropos Medien. Gleich mehrere Aufführungen berichten von der Verlagerung des Daseins in die virtuellen Reiche: Goethes Werther (Werther.Live, Regie: Cosmea Spelleken) zoomt statt durch den Wald zu ziehen, wobei die ZuschauerInnen via Chats und Videos eingebunden werden, derweil erinnert Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder von Boris Nikitin mit einem echten Container auf der Bühne noch einmal an das epochemachende Reality-Format Big Brother. Der Mensch degeneriert in dieser mit Zitaten von George Orwell gespickten Inszenierung des Staatstheaters Nürnberg zum Ausstellungsobjekt, bar jeder Würde und Autonomie.

Betuliches Wohlfühl- und Unterhaltungstheater liefert der Stückemarkt also nicht. Er ist so politisch, wie es sich Bertolt Brecht nur hätte wünschen können. Er ist kratzig und laut, dann wieder bluesig und charakterstark. Insbesondere das mit dem Nachspielpreis prämierte Werk Das hässliche Universum von Laura Naumann vereint diese gegensätzlichen Facetten. Unter der Regie von Sapir Heller heißt es: Vorhang auf für das postapokalyptische letzte Spektakel, flimmernd in den Ruinen der Menschheit. „Lasst uns alles, was wir kennen, zu Grabe tragen“, verkündet eine der SpielerInnen (Silas Breiding, Vincent Sauer, Nina Steils und Anne Stein). Sie imitieren in Einzelszenen „besorgte“ BürgerInnen, lamentieren über die gefühlte Zunahme von Straftaten, klagen aber auch über zu hohe Mieten. Einzig auf eine ominöse Rosa richten sich alle Hoffnungen auf Rettung. Kann es im Angesicht des Untergangs noch Erlösung geben? Flankiert wird die dissonante Mehrstimmigkeit von verschiedenen Songs. So wird die Bühne mit der Leuchtreklame The Goodbye Show (Bühnenbild: Anna van Leen) und ihrer die Konturen einer Wolke umfassenden Lichtgirlande zu einem Dark-Country-Style-Bandschuppen, hergerichtet für eine ins Leere gerufene Sehnsucht nach Utopien.

Zu gesellschaftskritisch? Zu welterklärend? Der Vielschichtigkeit des Gesamtprogramms wird das nicht gerecht. Vor allem, wenn man das Glück hatte, dem Eröffnungswerk beizuwohnen, konnte man erleben, welche Energie Theater mit minimaler Requisite entfalten kann. Meist handelt es sich um die Uraufführung des Gewinnerstücks aus dem vorherigen Festivalzyklus, so auch in diesem Jahr. Lediglich ein Quadrat in einem dunklen Raum bietet die Kulisse für Teresa Doplers Das weiße Dorf, in dem sich zwei Menschen begegnen, die einstmals eine tiefe Liebe verband. Nun finden sie sich auf einer Kreuzfahrt wieder. Trotz neuer Partner schwappt die Vergangenheit mehr und mehr über die Reling. Während beide – bewegend gemimt von Katharina Ley und Friedrich Witte – vorgeben, gegenwärtig zufrieden zu sein, spricht das Ungesagte zwischen den Zeilen Bände über die verpasste Chance. Es bleibt zuletzt die Melancholie. So wie auch in vielen anderen Aufführungen dieser Heidelberger Festivalsaison, die uns zwar brutal die Realität spiegelt, aber immer wieder subtil die Möglichkeit eines Anderswo andeutet.

Björn Hayer gehörte in diesem Jahr zur Jury des Heidelberger Stückemarkts

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