Zweck und heilige Mittel

Wahlkampf Reden wir endlich über Inhalte! Unser Autor hat überprüft: Wie halten die Parteien es mit der Kulturpolitik?
Ausgabe 30/2021

Ist das Kultur oder kann das weg? – diese Frage drängte sich im Jahr des Shutdowns für Bühnen und Ausstellungen geradezu auf. Nicht nur der generellen Schließungen wegen. Auch verbale Entgleisungen einiger EntscheidungsträgerInnen taten ihr Übriges. Kletterhallen, Autoscooter und Opernhäuser waren für manche doch irgendwie dasselbe, nämlich vorerst zu vernachlässigen. Indessen vermitteln jedoch die aktuellen Kulturprogramme der Parteien zur Bundestagswahl einen gänzlich anderen Eindruck. Einst noch ein Nischendasein auf den hinteren Seiten fristend, sind die darin angelegten Vorstellungen längst zu zentralen Kulminationspunkten politischer Weltanschauungen geworden. Obwohl sich alle darin einig sind, Kultur als Lebenselixier und Kitt der Gesellschaft zu weihen, gibt es hinter der Schönwetterrhetorik doch erhebliche Unterschiede zu entdecken. Ein genauer Blick lohnt also, liegt doch der Teufel bekanntlich im Detail.

Denn was kulturelle Einrichtungen leisten sollen, davon hat jede Akteurin ihre ganz eigene Definition. Wenn etwa die FDP die „Kreativwirtschaft als wichtigen Wirtschaftszweig“ ansieht, unterstreicht sie den Wettbewerbscharakter eines ansonsten weitgehend von staatlichen Subventionen geförderten Sektors. Die Devise lautet: Kunstproduktion soll ebenfalls wirtschaftlich rentabel sein. Zudem müsste man aus Sicht der Liberalen die Eigentumsrechte „privater Sammlerinnen und Sammler sowie die unternehmerische Freiheit von Kunst- und Auktionshäusern“ stärker berücksichtigen, die sie durch die neuen Regelungen zum „Abwanderungsschutz von nationalem Kulturgut“ bedroht sehen und die deshalb in Teilen rückgängig zu machen seien.

AfD ungewollt selbstironisch

Für die Konkurrenz im konservativen und rechten Spektrum spielt dagegen die kulturelle Identität eine wichtigere Rolle. Liest man bei der CDU noch etwas moderat vom Auftrag, deutsches Sprach- und Selbstverständnis durch künstlerisches Wirken zu verfestigen, verzichtet die AfD gänzlich auf nette Paraphrasen. „Deutsche Leitkultur statt ‚Multikulturalismus‘ “, liest man dort und beruft sich auf das Erbe des christlichen Abendlandes und der Aufklärung. Was unter der historischen Vergangenheit genauer zu verstehen sei, klingt dann so: „Die offizielle Erinnerungskultur darf sich nicht nur auf die Tiefpunkte unserer Geschichte konzentrieren, sie muss auch die Höhepunkte im Blick haben. Ein Volk ohne Nationalbewusstsein kann auf die Dauer nicht bestehen. Die AfD setzt sich gegen die Schmähung des Deutschen Kaiserreichs ein, das unzutreffend als rückständiger Unrechtsstaat diffamiert wird.“ Dieser geschichtsrevisionistischen Konzeption steht das erinnerungspolitische Ansinnen aller anderen Parteien gegenüber. Die meisten von ihnen wollen mehr Geld in Gedenkkultur investieren, zum einen zur weiteren Aufarbeitung der NS-Diktatur und der SED-Vergangenheit, zum anderen für eine intensive Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte. Angesichts dessen dürfte die AfD by the way schon einen Manipulationsverdacht hegen. Geradezu ungewollt selbstironisch mutet der auf ihre Mitbewerberinnen gemünzte Hinweis an, dass „die staatliche Kulturförderung (…) nicht dazu missbraucht werden (dürfe), die politische Willensbildung zu beeinflussen“.

Nun muss man aber zu Recht einräumen: Keine einzige um die Mehrheit im Parlament ringende Kraft lässt die Kultur einfach nur Kultur sein. Statt eines Bekenntnisses zur Freiheit der Kunst wird man überall deren Verzweckmäßigung gewahr. Auch die Grünen warten mit reichlich tendenziöser Prosa auf. Kreativ arbeitende Institutionen sollen dem Demokratieschutz und einer breiteren Repräsentation von Minderheiten dienen. Darüber hinaus will man gezielt in gewachsene Strukturen intervenieren. Zum Beispiel „bei der Besetzung von Intendanzen, bei der Zusammensetzung von staatlich geförderten Kulturbetrieben, bei der Vergabe von Stipendien und Werksaufträgen und bei staatlichen Jurys wollen wir eine Quotenregelung einführen“. Dass nahezu alle Parteien das Arbeiten derer, die doch unabhängig sein sollten, um ihnen kritisch den Spiegel vorzuhalten, für ihr weltanschauliches Profil vereinnahmen, ist bedenklich und dokumentiert zugleich die gewachsene Bedeutung der Kulturpolitik.

Bühnen, Museen und Denkmalpflege erhalten – zugespitzt – die Aufgabe, unser Bewusstsein zu beeinflussen. Daher sollen möglichst viele den Weg zu ihnen finden. SPD und Linke treten für breite Zugangsmöglichkeiten zu den Institutionen, unabhängig von Einkommen und Herkunft, ein. Während sich Erstere allgemein „darum kümmern (wollen), dass sich Kultureinrichtungen weiter öffnen können“, drängen Letztere darauf, beispielsweise bei den vom Bund geförderten Museen kostenfreien Eintritt zu gewährleisten. Kultur erweist sich somit als Teil der Daseinsvorsorge. Obgleich das Positionspapier der CDU am wolkigsten daherkommt, findet sich hierzu immerhin die begrüßenswerte Ambition, sie ebenso in ländlichen Gebieten stärker zu fördern.

Nur wer soll das alles nach der Wahl finanzieren? Zumal die Kultushoheit bei den Ländern liegt und in Teilen nicht zu den Pflichtausgaben zählt. Neben anderen fordern die Linken beispielsweise ein Bundeskulturministerium, das selbstredend mit einem eigenen Etat ausgestattet wäre. Großer Beliebtheit erfreut sich überdies die Aufnahme der Kultur ins Grundgesetz. Darin ein bloßes Lippenbekenntnis zu vermuten, wäre falsch. Die Erklärung zum Staatsziel könnte veritable Effekte nach sich ziehen, was ein Blick in so manches Bundesland veranschaulicht. Denn wo Kultur in nachgeordneten Verfassungen auftaucht, fallen die entsprechenden Ausgaben im Durchschnitt höher aus. Warum? Weil aus der die Festschreibung in den Landesverfassungen ein Auftrag zur Finanzierung von Kultur in den Kommunen ableitbar wird. Der Rotstift ließe sich dann nicht mehr so leicht an Musikschulen und Bibliotheken ansetzen.

Diesen von mehreren Parteien benannten Punkt darf man wohl noch zum Visionärsten rechnen, was ihre Forderungskataloge hergeben. Klar, viele Texte stehen im Zeichen der Restauration nach Corona. Die CDU spricht davon, „die Folgen der Pandemie zu mildern“ und Programme wie „Neustart Kultur“ fortsetzen zu wollen. Die Grünen wiederum stellen 1.200 Euro als monatliches Existenzgeld für Kreativschaffende für Zeiten des Lockdowns in den Raum. Mangelhaft fällt allerdings in allen Positionspapieren die längerfristige Perspektive aus. Die Linke will hier und da die freie Szene mehr unterstützen. Die SPD sieht sich derweil als Anwalt für die aufkommende Gamer-Szene und digitale Performancekunst. Alles schöne und gute Einzelmaßnahmen. Mehr von Nöten wäre in einer vor uns liegenden Epoche knapper werdender Haushalte hingegen ein überzeugtes Bekenntnis zur Kontinuität und dabei zuvorderst auch zu den großen und festen Playern wie den staatlichen Kunsthallen oder den Mehrspartenhäusern. Denn sie garantieren ein Fundament, auf dem neue Ideenarchitektur entwickelt wird. Statt einen mutigen und sich auf die Freiheit der Kunst berufenden „Deutschlandplan Kultur“ zu präsentieren, verschanzen sich die ProgrammautorInnen aller Couleur aber zu sehr in ihren identitätspolitischen Schützengräben. Für die einen sollen Spielpläne und Ensembles weniger weiß werden. Für die anderen können sie nicht „biodeutsch“ genug sein.

Der Wert autonomer Kunst

Übersehen wird bei diesen Stellvertreterkriegen jedoch eines: Identität, wie auch immer man sie fassen mag, hat weder Diversität zum Gegensatz noch bildet sie sich abgeschottet von der Restwelt allein aus sich selbst heraus. Ihr wesentlicher Widerpart und zugleich ihre zwingende Voraussetzung stellt die Alterität dar. Sie kann gar als das älteste Prinzip der Dramatik überhaupt gelten. Ohne Kreon keine Antigone, ohne Patriarch keinen Nathan, ohne Mephisto keinen Faust. Nur im Spiel mit dem Anderen gerät der eigene Standpunkt in Bewegung. Und nur aus der Spannung heraus entfaltet sich ein Novum. Genau aus diesem Grund sorgt jeglicher Lenkungsversuch für eine Verarmung des künstlerischen Geschehens. Kultur verhilft dann nur noch zur bloßen Selbstbespiegelung und Pflege der eigenen Bubble. Gerade weil die Post-Merkel-Ära allerdings neue Impulse, gar Utopien braucht, sollte uns eine autonome Kunstszene von allerhöchstem Wert sein. So entsteht die viel beschworene Vielfalt übrigens von ganz allein.

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