Im Frieden kann der Kapitalismus nicht leben

Krieg Der Kapitalismus ist seit 1989/90 auf sich selbst zurückgeworfen und entwickelt nach außen zwangsläufig imperialistische Ambitionen. Kriege gehören zum Wesen des Kapitalismus, im Frieden kann er nicht leben und gedeihen.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Das neue Jahrtausend war noch kein Jahr alt, da verzeichnete es neben vielen kleinen schon einen großen Krieg. Es war der Krieg des George W. Bush, mit dem er auf den Anschlag des 11. September 2001 gegen das World Trade Center und andere Ziele in den USA antwortete. Es war ein konventioneller Krieg, der anfangs auch ganz nach einem konventionellen Sieg aussah; dann aber dauerte er 20 Jahre und endete mit einer schmachvollen Niederlage der USA und ihrer willigen Bündnispartner. Die USA hatten mit geradezu religiöser Unbeirrbarkeit an die Schlagkraft ihrer Waffen geglaubt, an die führende Rolle des Militärischen, dass sie vor Warnungen, Mahnungen, anderen Erwägungen ihr Ohr verschlossen und auf politische oder gar wirtschaftlich-soziale Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus weitgehend verzichteten. El-Qaida führte keinen konventionellen, sondern einen asymmetrischen Krieg; nie wollte die Terrororganisation Territorium der USA besetzen, aber sie verbreitete Angst und Schrecken weltweit – und wird es mit all ihren Ablegern auch weiterhin tun.

Jetzt, 21 Jahre später, gibt es wieder einen Krieg, der in vielem dem Muster folgt, das die USA nach 9/11 entwarfen. Auch Russland glaubte mit geradezu religiöser Unbeirrbarkeit an die Schlagkraft seiner Waffen, an die führende Rolle des Militärischen. Putin verschloss vor Warnungen, Mahnungen, anderen Erwägungen sein Ohr und verzichtete schließlich auf geduldige politische und diplomatische Maßnahmen zur Abwendung der vom Westen systematisch geschaffenen Bedrohungslage. Sein Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert inzwischen schon fast sieben Monate und droht zu einer langen blutigen Auseinandersetzung zu werden, die Russland schwächt, die USA jedoch stärkt, müssen sie doch nicht selbst kämpfen, sondern können dies ihrem ukrainischen Substitut überlassen.

Es ist von beiden Seiten ein konventioneller Krieg, bei dem es aber für die USA um mehr geht als das Zurechtstutzen Russlands zu einer »Regionalmacht«. Sie spüren, dass die von ihnen betriebene Globalisierung eine Eigendynamik entwickelt und zur Entstehung neuer Machtzentren führt, die die von den USA beanspruchte weltweite Führungsrolle zunehmend in Frage stellt. Ein wirksames Gegenmittel haben sie noch nicht gefunden; paradoxerweise greifen sie auf eine bereits einmal gescheiterte Strategie zurück.

Der »eiserne Vorhang«, einst von den sozialistischen Ländern aus Furcht vor westlicher Unterwanderung hochgezogen und nach dem Ende des Sozialismus zum Einsturz gebracht, wird heute vom Westen erneut aufgerichtet. Diesmal aus Furcht, östliche Machtzentren könnten dominant werden – entweder durch die Verfolgung eigener imperialer Ziele oder aber durch Handel, Zusammenarbeit bei der Lösung weltweiter Probleme, also eine Politik zum gegenseitigen Nutzen. Letzteres bedeutet für beide Seiten Verzicht auf Einfluss und damit auf die Fähigkeit, Herrschaft auszuüben.

Einige Jahre nach dem Ende des Sozialismus schien es so, als hätte ein solches Konzept eine Chance; es scheiterte aber objektiv daran, dass es für den Kapitalismus als einzig verbliebener Gesellschaftsordnung einen antagonistischen Widerspruch darstellt. Ihm ist die Verfolgung imperialer Ziele inhärent, unabhängig davon, ob sich der jeweilige Staat Monarchie, Demokratie oder Volksrepublik nennt. Man muss dazu nicht Marx zitieren, sondern findet bei Wikipedia eine allgemeingültige Definition für den Kapitalismus: »Die Dynamik der Konkurrenz ist im Kapitalismus die treibende Kraft der Produktivkraftentwicklung. Auf Dauer ist nur erfolgreich, wer dieselben Waren billiger oder bessere (bzw. besser erscheinende) Waren zum gleichen Preis herstellen kann – das zwingt zu Innovation und Effizienzsteigerung. Die kapitalistische Konkurrenz funktioniert also nur dadurch, dass es Gewinner, die belohnt, und Verlierer, die bestraft werden, gibt.«

Mithin taugt die Schillersche Vision »Alle Menschen werden Brüder« nicht als Wert kapitalistischen Agierens. Es geht vielmehr ums genaue Gegenteil: Alle Menschen sind Konkurrenten. Und jeder ist angehalten, kompromisslos nach dem eigenen Vorteil zu streben – und sei es auf Kosten des Nebenmannes. Was so nach kapitalistischem Maßstab für das Zusammenleben der Menschen gilt, ist erst recht Richtschnur für die Beziehungen zwischen Staaten. Sie alle funktionieren – mehr oder weniger laut – nach dem Motto »Wir, als Staat, Land, Volksgruppe – zuerst!«

Dieses kapitalistische Wesensmerkmal bestimmt seit dem Ende des sozialistischen Systems die Geschicke der Welt, wobei militärische Schlachtfelder nur die eine, vielleicht nicht einmal wichtigste Kampfzone darstellen. Wesentliche Auseinandersetzungen spielen sich anderswo im politischen, ökonomischen, rechtlichen, kulturellen, ethisch-moralischen Raum ab; das zeigt sich gerade gegenwärtig mit besonderer Deutlichkeit. Und natürlich gehen mit den zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen auch innenpolitische Rechtsentwicklungen einher, die durch Autoritarismus, Nationalismus und Diffamierung alles Fortschrittlichen gekennzeichnet sind – und zwar letztlich in allen kapitalistischen Staaten, zwar noch in unterschiedlicher Ausprägung, aber mit deutlicher Tendenz hin zum Negativen.

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev beklagte 2019 in der FAZ das Einsickern von Autoritarismus in Staaten, die sich ihrer demokratischen Werte rühmen und stellte die provokatorische These auf: »Wir erkennen, dass das russische Regime den westlichen Demokratien ähnlicher ist, als wir wahrhaben wollen.« Rhetorisch fragte er: »Was ist der Unterschied zwischen der Behauptung des Kremls, es gebe keine Alternative zu Putin, und unserer These, es gebe keine Alternative zur aktuellen Wirtschaftspolitik? Was unterscheidet Putins Russland von Erdogans Türkei, Modis Indien oder Bolsonaros Brasilien? Und unterscheidet es sich so deutlich von Orbáns Ungarn oder Trumps Amerika? Sind wir sicher, dass wir noch in liberalen Demokratien leben? Und ist die Unterscheidung zwischen Demokratie und Autoritarismus überhaupt noch sinnvoll in Gesellschaften, die vom großen Geld und von neuen Technologien manipuliert werden?«

Was das Gesellschaftskonzept angeht, ist der Kapitalismus seit 1989/90 auf sich selbst zurückgeworfen. Die Alternative, die der Sozialismus theoretisch durchaus war, konnte sich in der Praxis nicht durchsetzen – zumindest nicht in diesem ersten Anlauf. Was blieb, ist Kapitalismus in »Reinkultur«; sein Wertegerüst basiert auf dem Mehrwert und wird dadurch zur hohlen Phrase, denn Ausbeutung und Konkurrenz bewirken eine Spaltung der Gesellschaft. Nach außen entwickeln sich zwangsläufig imperialistischen Ambitionen, Kriege gehören zum Wesen des Kapitalismus, im Frieden kann er nicht leben und gedeihen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden