Resonanzfrei fremdbestimmt

Realitätscheck Die unter der Pandemie beschleunigte evolutionäre Anpassung trägt nicht in allen Disziplinen zum Fitting der menschlichen Gattung bei

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Die Pandemie hat einen neuen Menschentypus generiert. Seine meist unförmige Silhouette weist keine spezifisch männlichen bzw. weiblichen Merkmale auf. Die Wirbelsäule ist vorgebeugt und ohne Körperspannung. Nur selten erhascht jemand einen Blick in sein Gesicht, und wenn doch, trägt der zu keinerlei weiterführender Erkenntnis bei.
Unterstützt werden die äußerlichen Kennzeichen durch verblüffend übereinstimmende Verhaltensmuster: Zum Wärmen und Bedecken bevorzugt dieser neue Typus maximal praktische, großformatige Bekleidungsstücke, die Haare trägt er konturlos. Er verhält sich unaggressiv, was nicht mit Freundlichkeit zu verwechseln ist, und nicht-initiativ bis passiv. Die Frage, ob er sich als Teil seiner Umwelt versteht oder ob expandierende Individualisierungsprozesse gar eine Neudefinition unseres Verständnisses von Umwelt und Gesellschaft einfordern, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ausreichend beantwortet werden. Seine hervorstechende Eigenschaft: Unbestimmtheit, wodurch seine Vertreter*innen beliebig austauschbar erscheinen.
Aufgrund seines Bedürfnisses, über ganze Tage mit seinem Smartphone zu interagieren, mit dem er drahtlos verbunden ist und das er mit beiden Händen festhält, als wollte es ihm entfleuchen, hat er alle handwerklichen Fähigkeiten verlernt. Weder durch Gestik oder Mimik noch stimmlich nimmt er Kontakt zu anderen Exemplaren seiner Spezies auf: nicht zu Vertreter*innen seiner eigenen Entwicklungsstufe und nicht zu denen der Vorstufe.
Evolutionär ist der neue Menschentypus darauf nicht mehr angewiesen. Wenn er wissen will, wie das Wetter ist, befragt er die WetterApp, wenn es brennt, die WarnApp. Dann erfährt er, dass er wegrennen soll, aber in welche Richtung? Ehe die App seinen Standort vermessen und den Fluchtweg markiert hat, fängt sein Parka schon Feuer, was er aber nicht wahrhaben kann, auch wenn es schon ziemlich heiß auf seinem Rücken wird, solange die App ihn darüber nicht informiert hat.
Vermehrte Szenarien dieser Art belegen: die Instinkte sind bei dem neuen Menschen stark verkümmert. Zwar vermittelt die reiche Auswahl an Apps ihm das subjektive Gefühl von Sicherheit, dafür schwindet jedoch jedes Bewusstsein von Gefahren – ein Umstand, dem er seine stets ausgeglichene Gemütslage verdankt. Weder ist er besonders glücklich, noch besonders traurig. Für die Gefühlsvermessung nutzt er eine Mood Tracking App, die ihn davor bewahrt, in Grübelschleifen festzuhängen. Seine emotionalen Trigger werden automatisch gespeichert, falls er den Eindruck haben sollte, die Kontrolle über sich zu verlieren. Was jedoch unwahrscheinlich ist, denn es gibt nichts zu kontrollieren.
Der neue Menschentypus ähnelt – ein interessanter Fall von regenerativer Evolution – dem Pantoffeltierchen: Essen, Zocken, Schlafen. Die Fortpflanzungsfunktion ist solange deaktiviert, wie die Technologie noch nicht in der Lage ist, Ereignisse wie Brunst, reproduktive Phasen und Deckart zuverlässig zu vermessen und auszuwerten. Zweckfreie, d. h. ergebnislose Übungen auf diesem Gebiet möchte der neue Menschentypus vermeiden. Eine neue App zur Verwaltung von Milchviehherden, die auf agrarwissenschaftlichen Studien beruht, wird sich in Kürze auch auf die menschliche Fortpflanzung anwenden lassen. Ähnlich der CoronaApp, basiert sie auf Kontaktpersonennachverfolgung. Den User*innen blieben auf die Weise die üblichen Balzrituale sowie überflüssiger Verkehr zum falschen Zeitpunkt erspart.
In welchen Disziplinen des täglichen Überlebenskampfes die – empirisch nachweisbar – durch Corona forcierte evolutionäre Anpassung zum Fitting der menschlichen Gattung beiträgt, zeigt sich erst im Realitätscheck. Ein Gesamturteil steht noch aus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

C. Juliane Vieregge

Autorin, Bloggerin. Am 13. März 2019 ist ihr neues erzählendes Sachbuch "Lass uns über den Tod reden" im Ch. Links Verlag, Berlin, erschienen.

C. Juliane Vieregge

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