Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 2.18

Das Logbuch geht weiter: “Corona-Delegieren” wird zum Massensport

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Schleichend hat es sich angebahnt, nun wird es immer deutlicher: Physisch ist (zum Glück!) nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Menschen in Deutschland von Corona betroffen, psychisch wird das Virus zur Volksseuche Nr. 1. Mental kann und darf sich keiner dem Virus in all seinen griechisch alphabetisierten Mutationen entziehen (außer man heißt UEFA – Olympia darf schon nicht mehr mit Publikum stattfinden). Angesichts der unüberschaubaren Mutationsvielfalt, die im menschlichen Gehirn stattfindet, bin ich geneigt zu sagen: Corona greift massiv den Verstand an. Und Lustlosigkeit, Unpässlichkeit, Unzuverlässigkeit, Bequemlichkeit und sogar Vergesslichkeit lassen sich sowieso ganz vorzüglich auf Corona schieben. Keiner hinterfragt irgendwelche Gründe, niemand muss sich für sein persönliches Versagen rechtfertigen. Das Virus selbst kann ja nichts sagen, kann sich nicht gegen die vielen Schuldzuweisungen wehren. Wir haben es uns schnell angewöhnt, das “Corona-Delegieren”.

Nun zum Beispiel der Woche: Seit Monaten beteilige ich mich an der Gründung eines neuen Vereins. Es ist ein überschaubares Dutzend, das in unregelmäßigen Abständen auf dem Monitor “meetet”. Mal treffen sich alle gemeinsam, mal nur die beiden Arbeitsgruppen, die sich für die Entwicklung einer Satzung und von Leitlinien gebildet haben. Nachdem ich angeregt habe, man könne bei sinkenden Infektionszahlen doch nun endlich mal wie ein richtiger Verein zusammenhocken, gibt es diese Woche einen echten “Ortstermin” – sogar mit Draußensitzen, um 12:00 Uhr mittags. Nun raten Sie mal, wie der ausgegangen ist.

Am Vortag wird der Erste bereits von einer anderen Teilnehmerin entschuldigt, die dann auch gleich fragt, ob in der anderen Arbeitsgruppe dieser Termin eigentlich notiert worden sei. Ihre Mail vermittelt Verwirrung. Eigentlich sollte dieser Termin monolithisch seit Wochen bei allen im Kalender stehen – so wichtig, wie er ist.

Am Vorabend sagt die nächste Teilnehmerin ab – da sie erst jetzt von dem Termin erfahren habe. Sie müsse arbeiten – und sagt auch gleich die nächsten Treffen ab. Wir dürfen Sie aber gerne weiterhin per E-Mail informieren. Aha, es müssen doch noch Leute arbeiten. Ich habe diese “Tagesfreizeittermine” für die Gründung eines “ehrenamtlichen” Vereins ja von Anfang an kritisiert. Doch das hat die Berufsfunktionäre unter uns bisher nicht interessiert, können sie diese Treffen doch wunderbar als Arbeitszeit verbuchen. Zumal sie im Moment ihrer üblichen Veranstaltungsarbeit kaum nachgehen können.

Um 10:38 Uhr am Tag selbst sagt eine Teilnehmerin (wenigstens persönlich!) mit der Entschuldigung ab, sie sei “etwas angeschlagen”. Wovon, verrät sie nicht. Vielleicht vom Frühstück? Oder von den ständigen Impfungen? Oder von der Angst, wieder auf Menschen zu treffen? Wenn wir früher von etwas angeschlagen waren, war das entweder die stressige Arbeit, der anstrengende Sport, das fiese Grippewetter, oder – meistens – die rauschende Partynacht zuvor. Ich vermute, diese Gründe fallen bei ihr alle weg.

Um 11:08 Uhr fragt die Ausrichterin des Treffens, ob es Sinn mache, sich zu treffen. Ääääh – nur weil drei oder vier von zwölfen abgesagt haben?

Um 11:15 Uhr wird die Veranstaltung entgegen meines entschlossenen “Ja” abgesagt.

Um 11:18 Uhr bedankt sich ein weiterer Teilnehmer bei der Veranstalterin für die Absage – jedoch nicht ohne den Hinweis, wie wichtig ein Treffen sei (… das er “online” übrigens auch an diesem Tag noch hätte einrichten können). Wir alle erwarten einen Doodle-Link, der dann wieder viele Terminangebote beinhalten wird. Mal sehen, auf welchen wir uns werden einigen können.

Um 12:04 Uhr bedauert eine Teilnehmerin, dass sie nun bereits umsonst zum Veranstaltungsort geradelt sei. Sie scheint noch jünger zu sein, betreibt eine kleine GBR und macht Kunst auf eigene Kosten und Gefahr. Irgendwann wird auch sie gelernt haben, wie geförderte Kulturarbeit funktioniert.

Ein unschönes Szenario zeichnet sich ab: Schon sehr bald könnte es nur noch geförderte Kulturarbeit geben, die Kultur selbst wird dann auf der Strecke geblieben sein. Das Soziale ist bereits in hohem Maße auf der Strecke geblieben, und die Bildung ist Wahlkampfthema – ein Zeichen dafür, dass sie eine gefährdete Art ist? Mit der Kultur stirbt das Soziale, und nach der Kultur die Wirtschaft. Damit gibt es auch keine geförderte Kulturarbeit mehr. Doch wer braucht dann noch Bildung? Die hatten die ersten Menschen doch auch nicht, als sie mit der Keule alle Hindernisse aus dem Weg räumten.

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