Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 2.36

Das Logbuch geht weiter: Das “Plus” ist da

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“Heil Heil!” mag man fast rufen, liest man die Forderung des Arbeitsministers, Arbeit nur noch dann zu entlohnen, wenn sie in geimpftem, genesenem oder getestetem Zustand verrichtet wir. Klasse – da können wir uns ja wieder wegen irgendeinem Wehwehchen (nicht wenige freuen sich aktuell über die “gute alte Erkältung)” krankschreiben lassen, betrunken zur Arbeit erscheinen oder uns nach allen Regeln der Kunst um jegliche Anstrengung herumdrücken. Hauptsache, wir sind 3G, dann bekommen wir unser Geld. Übrigens: Den ganzen Tag lang in unterkühlten Räumen Kunststoffpartikel einatmen und dabei kaum das eigene Wort verstehen, dürfte auch gut für eine gediegene AUB sein.

Wo ich arbeite, darf man als “Nicht-G-ler” ab Mittwoch übrigens nicht einmal mehr den Bus besteigen. Es wäre ja auch übel, wenn man weiterhin zur Arbeit fahren könnte, um dann am Monatsende zu erfahren, dass man seine Kohle sowieso nicht bekommt. Klammheimlich hat sich das “G” zum Lieblingsbuchstaben der Deutschen entwickelt. Doch damit nicht genug – diese Woche lerne ich als neue Corona-Attraktion das “Plus” kennen. Ich erlebe meine erste Konferenz, die gleichzeitig ein Essen ist, im “G2Plus”-Modus: Man testet sich als Geimpfter vor der Veranstaltung zuhause, lässt den Test dort jedoch liegen, weil man ihn beim Eintritt nicht vorzeigen muss. Dafür nimmt man die FFP2-Maske mit, denn OP-Maske entspricht nicht der Etikette. Anschließend sitzt man mit seiner Maske in einem auf Außentemperatur heruntergelüfteten großen Saal – jeder an einem Zweimetertisch (20 Meter lange U-Anordnung) – und friert, sobald man Mantel oder Jacke auszieht. Nach dem Konferenzteil verlässt man den Saal und überaus aufmerksame Damen decken unter fortgesetztem Lüften ein. Das Essen kommt vom Italiener, 150 Meter entfernt, bedienen tut man sich heute am Büffet im Vorraum. Ich glaube, so zeitig wie dieses Jahr haben sich die Teilnehmer noch nie verabschiedet. Und auch das Essen wurde noch nie so schnell kalt. Dennoch gilt dem Veranstaltungsteam mein Dank für eine einmalige Erfahrung. Wir Deutschen sind also doch noch beinhart, wenn es drauf ankommt. Jetzt erst recht!

Das werden sich auch die Kölner gesagt haben. Hatten sie zu Beginn der Corona-Zeit besonders durchgriffige Corona-Cops, wollen sie jetzt anscheinend nachziehen, im Inzidenz-Wettrennen. Da kommt der Karneval gerade recht. Wo andere nur 3G hinkriegen, kommen die Rheinländer locker auf 4G: “Geimpft, genesen, getestet und Gehirn abgeschaltet” heißt es am 11.11. um Punkt 11 Uhr 11. Und es klappt mit der neuen Rekordinzidenz, hurra! Wie man liest, ist der Karnevalschef übrigens Bestattungsunternehmer – da ist “das Leben feiern” jetzt natürlich nochmal besonders wichtig, bevor wir wieder alles dichtmachen. Wie zum Beispiel Weihnachtsmärkte. Denn die werden im Zuge der Neuinfektionen natürlich reihenweise und flächendeckend abgesagt oder einem Reglement unterzogen, dass einem den Spaß sowieso verdirbt.

Dem erneut zu erwartenden Lockdown zum Trotz beschließe ich, eine Monatskarte zu kaufen und meine nicht unbeträchtlichen Berufskilometer ab sofort wieder mit dem Zug zu absolvieren. Endlich wieder lesen, schreiben oder gar komponieren, anstatt sich mit anderen Autofahrern herumärgern und Unfälle erleben zu müssen. Der Fahrkartenschalter sieht putzig aus. Erscheinen die Plexiglasscheiben auf dem Tresen noch halbwegs sinnvoll, wirken die Absperrbänder einen halben Meter davor absolut lächerlich. Und sind es auch – denn als Kunde muss man sich krakenartig verrenken, um bezahlen und bedient werden zu können, und am Schluss drückt man das Band sowieso bäuchlings gegen den Tresen. Die Fahrkartenverkäufer interessiert das nicht. Zu allem Überfluss weist mich eine besonders unwirsche Bedienstete darauf hin, dass ich nicht exakt vor einer der Scheiben stehe, sondern im scheibenlosen Niemandsland zwischen ihrem Schalter und dem des Kollegen zu ihrer Linken, und mich gefälligst ein Stückchen weiterzubewegen habe. Ich entscheide mich für den Kollegen und trete in leicht schrägem Winkel vor seine Scheibe, die ihn und mich nun akkurat trennt. Doch auch das reicht ihr nicht, anscheinend fühlt sie sich trotz der nunmehr drei Meter zwischen uns noch immer ungeschützt meinem Aerosolschwall ausgesetzt. Frecherweise weise ich sie daraufhin, dass ich im Gegensatz zu ihr und ihrem Kollegen wenigsten eine Maske trage. Deshalb sei die Scheibe ja auch da, führt sie ihre absurde Logik fort, und zischt die Zahl “54.000”, bevor sie ihre Maske aufsetzt und überstürzt den Arbeitsplatz verlässt. Ich vermute, dass sie stante pede einen Ordner holt, der mich umgehend des Schalterraumes verweisen wird.

Der mich bedienende Kollege bleibt bis zum Schluss freundlich und schiebt mir das just erstandene Ticket nicht etwa durch den dafür vorgesehen Schlitz unten in der Schutzscheibe hindurch, sondern überreicht es großzügig an der Acrylglasplatte vorbei, über den offenen Tresenbereich hinweg. Wäre der nicht brusthoch, würde ich dem guten Mann wegen des erwähnten Absperrbandes in die Arme fallen. Auch ohne direkten Körperkontakt atmen wir uns zum Abschied gegenseitig verschwörerisch an und ich fliehe aus der Schalterhalle, bevor mich doch noch ein Ordner anspricht. Nicht auf dem kürzesten, menschleeren Weg, sondern auf den Pfeilen, die an allen anderen Schaltern entlangführen.

Zu allem Überfluss gibt es diese Woche noch einen Eklat um den Trainer von Werder Bremen, dem man Impfpassfälschung vorwirft. Sogleich wird von einer Hausdurchsuchung berichtet (seit Corona wieder stark in Mode gekommen – vielleicht finden sich bei dem Mann ja noch ein paar Verschwörungsdateien oder Querdenkerunterlagen). Ein Jahr Freiheitsentzug droht. Dem Trainer Markus Anfang bleibt nichts anderes übrig, als aufzuhören. Mit diesen News eröffnet die dieswöchige “Sportschau”. Doch sollte die sich nicht eigentlich den Spielen widmen? Wie fühlt sich die Moderatorin bei derartigen Beiträgen, was denkt sie persönlich darüber? Als wolle sie schnell wieder vom Aushebeln einiger Rechte und Fairness-Gebote im eigenen Lande ablenken, springt die junge Dame ganz schnell nach Katar. Denn eigentlich soll das Böse doch dort verortet sein. Die gezeigten Bilder ähneln denen aus Südafrika von 2010: Irgendwo in die Wüste gebaute Stadien für 60.000 Besucher, vornehmlich VIPs und Super-VIPs, während drumherum kaum halb so viele Menschen ein karges Dasein fristen – die vielen ausgebeuteten Arbeiter, die nicht fliehen können, nicht mitgezählt. Zunehmend mehr skandinavische Fußballer und ihre Verbände protestieren vehement gegen Katar. Bayern München hingegen trägt den Schriftzug “Quatar” auf dem Ärmel, und damit kann man natürlich schlecht etwas gegen Katar haben. Ein Bayern-Spieler findet, dass es im Winter vor der WM sowieso zu spät für Kritik oder gar Boykott sei – der Ball in der Wüste rollt bereits, der Rubel auch. Apropos “Ärmel”: Ein ehemaliger TV-Star aus Übersee namens David Haselnuss macht für die BILD-Republik Deutschland eine muskelstrotzende Kampagne namens “Krempel die Ärmel hoch”, wobei auf seinem beachtlichen Bizeps ein verschwindend kleines Pflästerchen sichtbar wird. Schade, dass man für die Kampagne nicht seine ehemalige Serienpartnerin genommen hat, die ihr Pflaster auf dem Hintern, oder besser noch, auf den vorderen Extremitäten präsentiert. Damit hätte man eventuell zumindest die impfverweigernden Pubertierer (aller Altersgruppen) zum Impfen verführen können.

Am Samstagabend erreicht mich eine Mail aus dem ehemaligen Kollegenkreis, der komplett geimpft ist. Geplant ist schon seit Wochen, sich mal privat zu treffen. Heute nun wird vorgeschlagen, sich direkt vor dem Treffen selbst zu testen. Ich tue mich schwer, eine ernsthafte Antwortmail zu verfassen. Dabei ist mir auch so etwas nicht ganz neu, erzählte doch ein ungeimpfter Bekannter kürzlich, dass er ohne Test nicht auf der Beerdigung seines Onkels erscheinen dürfe. Das erinnert mich an diese Filme, in denen Nahestehende einer Beisetzung aus der Ferne, halb hinter Bäumen stehend beiwohnen, weil sie im Kreise der Angehörigen unerwünscht sind.

Egal, wie sehr ich mich als Satiriker auch anstrenge – mit der Absurdität der Realität komme ich nicht mehr mit. Ich passe. Zumindest für heute. Morgen wird nicht ans Telefon gegangen, keine E-Mail abgerufen und der Fernseher bleibt auch aus. Ich werde im Wald spazieren gehen.

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