Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 2.39

Das Logbuch geht weiter: Warum soll es Tannenbäumen besser gehen?

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Die niedersächsische Kleinstadt, in der ich derzeit beruflich unterwegs bin, hat nach anfänglichem Aufbäumen gegen die Unwägbarkeiten des Weihnachtsmarktausrichtens nun, in der zweiten Adventwoche, doch die Segel gestrichen. Den armen Tannenbäumen indes hilft das nicht mehr. Ende November hatte man sie schnell noch exekutiert und zu Dutzenden auf den schnuckeligen Fachwerkmarkt gekarrt. Etliche von Ihnen wurden an die denkmalgeschützten Laternen der Bergstraße geknüpft wie früher hingerichtete Piraten an die Buhnen des Hamburger Hafens. Jedes Mal, wenn ich auf den engen Gehwegen ihre Zweige berühre, überkommt mich ein Schauer des Unwohlseins. Wieso tun Menschen so etwas? Wen soll dieses barbarische Dekorationsritual erfreuen, was soll das alles mit Weihnachten zu tun haben? Der Marktplatz selbst ist am Wochenanfang nach dem großen Abräumen noch immer abgesperrt. Es herrscht ungebrochen Maskenpflicht auf dem mittlerweile fast völlig verwaisten Areal und korpulente Sicherheitskräfte versehen weiterhin ihren obsolet gewordenen Dienst vor einem weißen Blechcontainer, der sich nahtlos in die Toilettenfront einreiht. Zumindest geht es den nach dem Abbau der Holzhütten nicht mehr benötigten Bäumchen besser als ihren geschundenen Leidensgenossen an den Laternen. Sie haben das Martyrium hinter sich und liegen Seite an Seite am Straßenrand wie aus den Häusern getragene Opfer der mittelalterlichen Pest. Auch die Bilder aus Bergamo vom Spätwinter 2020, die uns damals so eindringlich auf die anrollende Pandemie einstimmen sollten, werden in meinem Kopf wieder lebendig. Wie sinn- und leblos die Vorweihnachtszeit dieses Jahr doch anmutet, und wie verloren die Menschen mit ihren Filtertüten auf der Nase durch die Straßen und über die Plätze schleichen. Stumpf und grau durchziehen monotone Kopfsteinmuster und geometrische Fachwerkraster den kühlen Dunst, in dem es nicht mehr glitzert, duftet und tönt.

Der Schriftsteller Márquez forderte, man müsse der Verfügbarkeit Grenzen setzen, indem man endlich einmal “Nein” sage. Viele von uns haben sich erschreckend schnell an dieses hinterfotzig daherkommende “Plus” gewöhnt. Ein heuchlerisches, euphemistisches “Plus”, das doch nur ein getarntes “Minus” ist. Ein Minus für die Umwelt, ein Minus in puncto Vertrauen in die Impfung, ein Minus bezüglich aller Verheißungen, die man uns als Belohnung für das Impfen vorgegaukelt hat. Und ein Minus, das wir wahrscheinlich in unsere Zukunft mitnehmen werden. Denn hört noch immer keiner hin, wenn sich Virologen äußern? “Das Virus wird nicht mehr verschwinden”, war bereits des Öfteren zu vernehmen. Wie wenig Phantasie haben wir eigentlich, wenn wir uns nicht vorstellen können, wohin das führen kann?

Als Ende der unbeschwerten 1980er-Jahren das unheimliche AIDS-Virus in unser Bewusstsein eindrang, nahmen wir Kondome mit, wenn wir aus- oder auf eine Party gingen. Später, als deren Verfallsdatum überschritten war, mussten wir sie unbenutzt – aus welchen Gründen auch immer – entsorgen. Werden wir in Zukunft nur noch mit einem Fünferpack Schnelltests aus dem Haus gehen, um uns und unsere Freunde bei jeder noch so harmlosen Zusammenkunft zur Begrüßung gemeinsam zu testen? Werden wir alle hier oben im Norden statt friesischer Tee-Zeremonien bald unappetitliche Nasenbohr-Zeremonien pflegen? Nein, alle sicher nicht, denn die Ungeimpften laden wir erst gar nicht mehr ein. Doch ob die Geimpften und Genesenen, die ja permanent mehr werden (weshalb wir in Bälde wahrscheinlich eher durchgenesen als durchgeimpft sein werden), sich konsequent an das Präventionsreglement halten werden, ist ebenso unsicher wie die Sache mit den Kondomen damals.

Ist es nun unsozial, wenn man sich dem “Plus” lieber heute als morgen entziehen will? Habe ich erst kürzlich ein “Plus”-Treffen mit meinen Ex-Kollegen abgesagt, kicke ich diese Woche meine Freizeit-Fußballrunde, die sich kurz vor dem Spiel schnell noch vor der Halle selbst testen will. Ein auswärtiger Freund ruft an und schlägt ein gemeinsames Essen vor mit der Frage, wo man sich in der Nähe testen lassen könne. Gerne lade ich meine Freunde nach Hause ein (natürlich nicht alle zusammen), denn ausgehen will ich einstweilen nicht mehr. Das letzte Jahr haben wir auch ohne Fußball, Essengehen und Shopping überlebt – teilweise sogar ohne Familie. Dann machen wir es dieses Jahr eben wieder so. Nicht schön, aber leider auch nicht mehr selten.

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