Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 2.9

Das Logbuch geht weiter: Wirklichkeit und Wahrnehmung

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Mittlerweile arrangieren wir uns mit Corona. Je nach Mentalität und Meinung unterschiedlich, aber zuverlässig. Wenn ich etwas über frühere Pandemien grippaler Natur erfahren möchte, muss ich übrigens gar nicht die über hundertjährige Tante Dorle fragen, denn nach der „Spanischen Grippe” kamen noch andere. Meine Mutter hat auch schon mehrere Pandemien überstanden, und erstaunt muss ich feststellen, dass auch ich schon mindestens eine erlebt habe. Leider erinnern wir uns nicht – weder an die „Asiatische” von 1957 (ca. 30.000 Todesopfer in Deutschland), noch an die „Hongkong-Grippe“ (ca. 40.000 Todesopfer in Deutschland) der Jahre 1968 bis 1970. Ich erinnere mich aus dieser Zeit an die Mondlandung, an diesen einen weißen Stiefel, der minutenlang nicht aus der Raumfähre kommen wollte, und daran, dass ich im Musikunterricht mangels nachgewiesener Musikalität Triangel spielen musste. Masken gab es damals nur zum Karneval, geimpft wurde man gegen Tetanus. Das versprach einen klaren Nutzen, tobte ich doch täglich im Wald herum und lief permanent Gefahr, mir über eine offene Wunde eine Blutvergiftung einzuhandeln.

Impfen war also kein Problem, man hat es gemacht und nicht darüber nachgedacht. Alle die ich kannte sind groß und stark geworden und wir waren immun wie eine Herde. Und auf gar keinen Fall kannten wir diese heute bei vielen Menschen spürbare Angst, plötzlich im Koma zu liegen oder gar zu sterben.

Nun sind diese Zeiten vorbei - und ich fürchte, für immer. Ich weiß gar nicht, was mich mehr umtreibt: Corona, oder der Umgang damit. Wie konnten damals 40.000 Menschen sterben, und wir haben uns hauptsächlich darüber Sorgen gemacht, dass die Russen im Anschluss an den „Prager Frühling” auch uns überrennen könnten? Warum gibt es „Corona” schon seit 20 Jahren sowie die Erkenntnis, dass es keinen langzeitwirksam sicheren Impfstoff gibt, und nun gelten zwei Piekse als das große Versprechen für Glückseligkeit oder gar als einzige Überlebenschance? Wieso läuft schon nach ersten Meldungen einer neuen Grippe aus China eine Politik- und Medien-Maschinerie an, die uns am liebsten gleich in kollektive Quarantäne schicken würde? Warum trainieren wir permanent neue Hygiene-Maßnahmen, während das Virus unbeeindruckt weitermacht? Warum empfinden es viele als ganz normal, dass doppelt Geimpften weiterhin Maske tragen – sogar, wenn sie komplett unter sich sind? Erinnert sei auch an den fünffach geschützten Drogerie-Verkäufer, der hinter einer Glasscheibe sitzt, eine Maske sowie Gummihandschuhe trägt und sich mehrmals wöchentlich testet, obwohl er bereits über den vollen Impfschutz verfügt. Die Selbstverständlichkeit, mit der das alles ge- und ertragen wird, legt die Befürchtung nahe, dass die „Normalität“, zu der man zurückkehren will, nicht die Normalität sein wird, die wie vor Corona kannten. Werden wir womöglich gerade auf eine neue Normalität konditioniert?

Wenn der Irak-Krieg als erster „Medien-Krieg” gilt, wird Corona wohl als erste Medien-Pandemie in die Geschichte eingehen. Gegen den Irak-Krieg standen seinerzeit Millionen Menschen in allen Metropolen Europas auf der Straße; gegen Corona sehen wir dort nur sogenannte „Querdenker” und „Verschwörungstheoretiker”.

Unter meinem Balkon steht ein Lieferwagen der Per Mertesacker Stiftung mit einem Aufkleber auf der Kühlerhaube, den ich von hier oben aus so gut lesen kann, als stünde ich direkt vor dem Fahrzeug: „Für die soziale Integration von Kindern”. Hinter der Frontscheibe liegt ein Schild, auf dem „Impfpaten” steht. Ich suche nach kausalen Zusammenhängen. Leben wir in einer Gesellschaft, in der Kinder nicht mehr von vornherein und selbstverständliche als Mitglieder dazugehören, sondern erstmal „integriert” werden müssen? Wenn ja, warum muss sich der Per, der im weit entfernten London Jugendbetreuer bei „Arsenal” ist, nun auch darum noch kümmern? Und was sind „Impfpaten”? Können die Sanitäter, Pfleger und Schwestern das Impfen nicht ohne Beistand bewältigen? Und wenn dem so ist, warum übernehmen die Patenschaft nicht Ärzte? Auf jeden Fall zeichnet sich ab, dass auch Kinder bald gegen Corona geimpft werden sollen. Auch diese Impfung wird wahrscheinlich jedes Jahr erneuert werden müssen, obwohl Kinder naturgemäß gegen Grippeerkrankungen recht unempfindlich sind – und Geimpfte nach bisherigem Kenntnisstand die Viren durchaus weiterverbreiten können. Es steht zu vermuten: Den liebsten Krankschreibungsgrund der Deutschen wird es bald nicht mehr geben. War es vielleicht von Anfang Ziel der Informationsmaschinerie, uns klar zu machen, dass es die „harmlose Grippe“ nicht mehr gibt? Oder gab es die noch nie, und wir waren einfach nur leichtsinnig und rücksichtslos genug, die vielen Opfer früher Höchststandjahre zu bagatellisieren oder gar zu ignorieren? Mich überfordert das alles, ich werde müde und muss mich schlafen legen.

Meine gute Fee spricht zu mir in einem Traum, in dem öffentliche Plätze von Hunden bevölkert werden, die herumstolzieren wie Menschen. Alleine, eingehakt als Pärchen oder in Dreiergruppen. Die Menschen haben hier nichts mehr verloren, sie gehen derweil zum Impfen in eine Hallenlandschaft am Rande der Stadt. Ein Flughafen, ein Messegelände, eine eigens errichtete Stadt – ich kann nicht genau erkennen, was es ist. Im Inneren wird das Bild klarer. Ich passiere den ersten Schalter, an dem ich mich ausweisen und einchecken muss. Von da aus schickt man mich quer durch eine riesige Halle in einen andersfarbigen Bereich, wo meine Papiere umsortiert werden. Von Schalter 12 geht es direkt in eine weitere Halle zu Schalter 16. Nachdem insgesamt sieben Handpaare an acht Countern meine Unterlagen kontrolliert, umsortiert und abgestempelt haben, ich selbst alles noch ein zweites Mal ausfüllen musste, weil zuvor irgendwas schiefgegangen und irgendwelche Informationen falsch waren, schwirrt mir der Kopf. Die Füße werden schwer – wie viele hundert Meter mag ich bereits zurückgelegt haben? Als ich kurz davor bin aufzugeben, erreiche ich einen Raum, der mich schon zu erwarten scheint. Mit „na endlich, schnell, schnell, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit”, empfängt mich ein Arzt, der einen ebenfalls anwesenden Rettungssanitäter die Spritze setzen lässt. Alles geht sehr schnell, andere Impfpatienten sind weit und breit nicht zu sehen. Für den Rückweg benötige ich dann nur noch eine Viertel- statt der Dreiviertelstunde des Hinwegs. Ich muss an lediglich drei Checkpoints Halt machen, nur zweimal meine Papiere umsortieren lassen und lediglich einmal auschecken. Im Eingangsbereich läuft “Hotel California”, zwei Stewardessen ähnliche Mädchen verabschieden mich lächelnd und ich trete ins Freie. Die Sonne blendet mich, mir wird schwindelig und ich spüre, wie sich der Ärmel meines Hemdes auf einer Seite spannt. Schweißgebadet erwache ich. Der Wecker zeigt das Jahr 2022 an. Ein Blick auf den AB verrät mir, dass ich keinen Anruf verpasst habe. Draußen auf der Straße höre und sehe ich keine Menschseele, so lausche ich dem Gezwitscher der Vögel. Nur einige Minuten. Oder sind es Stunden?

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