Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 31

Das etwas andere Logbuch Tag 211 soll einer neuen Eingliederungsmaßnahme die erste Teilnehmerin bringen.

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Tut er dann aber doch nicht. Die Teilnehmerin ist vorgeblich mit jemandem liiert, der sich in der letzten Woche mit jemand anderem in ein und demselben Gebäude mit jemandem anders befand, der positiv auf Corona getestet wurde. Die Teilnehmerin ist zum Arzt gegangen und hat einen Test machen lassen. Das Ergebnis wird einige Tage in Anspruch nehmen. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat sie sich nicht geben lassen, und darf sie auch nicht vom Arzt abholen. So wird im Laufe der Woche ein Kurier bemüht. Den Luxus leistet man sich. Wer es nicht im Kopfe hat, nutzt die Beine anderer. Und man leistet sich uns: Zu zweit bereiten wir uns seit Tagen akribisch auf diese Teilnehmerin vor, arbeiten uns in das komplexeste EDV-Berichtssystem ein, das ich bisher kennen lernen durfte und dann kommt sie nicht. Stattdessen erreicht uns das zur Legitimierung ihrer Abwesenheit vom Kurs zwingend erforderliche Dokument. Sie hat es per Smartphone abfotografiert und uns das Bild zugemailt. Aus Datenschutzgründen haben wir von ihr selbst noch kein Foto gesehen, nun kennen wir wenigstens die Farbe Ihres Nagellackes. Doch auch die muss hier aus Datenschutzgründen unerwähnt bleiben.
Andere Menschen chatten und konferieren derweil, was das Zeug hält. Nur ich, ich vergesse vor lauter Warten auf die Teilnehmerin weit weg von zu Hause meine Konferenz der Woche, sitze statt dessen neben meinen mittlerweile liebgewonnen Kollegen in der Fahrgemeinschaft im Stau und komme zu allem Überfluss eine ganze Halbzeit zu spät zu meinem eigenen Fußballspiel.
Scheinbar warten alle. Auf den neuen Pandemie-Peak. Zahlen kursieren, es wird spekuliert, wann der nächste Lockdown kommen könnte. Alles trägt jetzt Masken, Habacht-Stellung und mentale Vorbereitung all around. Momentan habe ich selbst fast keinen Kontakt zu Medizinern und Krankenhausmitarbeitern. In meinem Tunnel, durch den ich mich seit Tagen bewege, kommt mir das Szenario vor wie eine “Phantom-Pandemie”.
Vorauseilender Virus-Alarm-Gehorsam. Wir haben nicht nur gelernt, sondern sind offensichtlich schon auf Corona konditioniert.
Vielleicht hängt das Fehlen des unmittelbaren Schreckens für mich auch mit der Phantasie zusammen. Die gezeichneten Abbildungen der Pest, die ich als Kind sah, stehen neben Bildern des ersten Weltkrieges, wie Otto Dix ihn malte. Hieronymus Boschs Martyrien und die Aids-Opfer, die sich noch auf dem Sterbebett fotografieren ließen, tauchen in meinem geistigen Bildarchiv auf. Dagegen nimmt sich dieses Virus, das die Welt ungebrochen im Alarmzustand hält, ehrlich gesagt schon etwas unauffälliger aus. Diese eklatante Gegenläufigkeit von überbordender Information und (zum Glück) verschwindend geringer Präsenz für die meisten von uns lässt noch immer alles für die meisten von uns sehr unwirklich erscheinen.
Auch der Fußball zeigt diese Woche wieder sein Pandemie-Gesicht – zumindest, wenn die Akteure ihre Masken abnehmen. Dynamo Dresden beispielsweise darf genau 999 Zuschauer einlassen, eine Schnapszahl, die an eine Schnapsidee der NDW-Zeit erinnert. Besonders rührend ist die Zusammenführung der Familie Kroos, da der Toni doch sein 100stes Länderspiel macht. Ein leidlich gutes Match gegen die Schweiz, die sich in Europa mittlerweile einen guten Ruf erspielt hat. 3:3 endet das spannende Duell, hängen bleiben am Ende die lachenden und sich umarmenden Kroos' – als einzige im Fernsehen sichtbare Besucher des weiten Rundes.
Überhaupt sollte man einmal über den Begriff „Länderspielpause“ nachdenken. Es ist doch gar keine Pause. Sondern eine Phase, oder ein langes Wochenende. Andererseits ist eine „Corona-Pause“ ja auch keine Pause. Denn Pandemien kennen keine Pausen, sie kennen nur einen Anfang und im günstigsten Fall ein Ende. Danach sieht es im Moment jedoch nicht aus. Mit über 9.000 Neuinfektionen melden die Staatsorgane diese Woche die höchste innerhalb von 48 Stunden erfasste Rate seit Beginn der Seuche. Dabei haben die Leute, die ich inklusive der eigenen Person kenne, nicht mal einen Test machen lassen. Ausfallen tut lediglich die eingangs erwähnte Teilnehmerin meiner Maßnahme, deren Test sich Ende der Woche als „negativ“ herausstellt.

Besonders beeindruckend ist am Sonntagnachmittag vor allem ein Bekannter, der bei einer gemeinsam besuchten Buchlesung bis zum Schluss (als einziger) seinen Mund-Nase-Schutz aufbehält. Es ist nicht nur die Kälte in dem unbeheizten, ehemaligen Kesselhaus, in dem die Veranstaltung stattfindet, die ihn dazu treibt. Er bezeichnet den Gesichtslappen als seinen „Lernraum“. Hier komme niemand rein, um ihn zu stören, und er könne ungehindert seinen eigenen Studien nachgehen.
Dazu muss man wissen, dass er Wissenschaftler und gerade im Begriff ist, seine Masterarbeit im Stadtarchiv Hannover zu beenden. Wir alle sind neugierig darauf, zumal sich das Objekt seiner Wissbegierde, das oben erwähnte Kesselhaus, nach selbstverordneter Kommunikationskontaktsperre der Führungsclique in bemerkenswertem Sinkflug befindet. Daran kann auch die besuchte Lesung nicht viel ändert. Immerhin sind alle Stühle besetzt, das ist ja auch schon was. So wie im Fußball die Vereine nicht einmal ihre lächerlich geringen Kartenkontingente los werden (Statistiker haben ermittelt: 57% der Fußballfans verzichten aktuell freiwillig auf ihren Stadionbesuch!) – so sieht es auch bei vielen Kulturveranstaltungen aus. Deshalb bin ich dafür, dass der Eintritt nicht kostenlos sein darf. Nirgendwo. Jeder, der sich anmeldet und dann nicht kommt, sollte bei seiner Platzreservierung eine Buchungsgebühr bezahlen, die doppelt so hoch wie der Eintrittspreis ist. Wenn der Besucher dann nicht erscheint, bekommt er keinen Cent zurückerstattet und bezahlt so einen „Soli“ für die Kulturlandschaft. Doch wenn er kommt, erhält er die Hälfte seines Geldes zurück.
Nicht Corona sollte in diesen Zeiten den Wert von Kulturveranstaltungen definieren, sondern – wie zu allen anderen Zeiten auch – Geld.

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