Das Leben in den Zeiten der Corona, Woche 48

Das etwas andere Logbuch Tag 330 ist weiß.

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Auf den Feldern wie auf den Straßen, auf Bäumen und Sträuchern wie auf den Dächern der Häuser, deren Heizungen die weiße Decke nicht sofort wieder zum Schmelzen bringen. Auch die Autos sind weiß und liegen friedlich da, wie Schiffe an verschneiten Stegen. Wenn sich eines von ihnen doch bewegt, dann hört man es nicht. Zum ersten Mal seit Jahren muss ich in meinem Arbeitszimmer, dessen Außenwand zu 70 Prozent aus Glas besteht, die Heizung auf “5” drehen. Drei Paar Socken an den Füßen, ein gefütterter Hoodie über dem Winterpullover. Jetzt hat der Lockdown ein Geschwisterchen bekommen: Schneeweißchen und Coronarot. Mich erfreut das, weil mir dieser einseitige Covid-Koller schon lange gegen den Strich geht. Endlich habe ich die Wahl und schenke meine Sympathien Schneeweißchen. Coronarot ist diese Woche automatisch mit dabei, denn Genossin Stefanowa hat sich dem Oberbefehl gefügt und lässt uns zuhause arbeiten - jedoch nicht, ohne bereits zu Wochenbeginn am Rückkehrbefehl zu arbeiten. Freudig kündigt sie bereits Dienstag an, dass der Schnee zwar steige, die Infektionssrate jedoch sinke. In der Heimüberwachung unserer Schutzbefohlenen habe ich alle Hände zu tun, die verlorenen Seelen wieder einzufangen und bei der Stange zu halten. Die Wodka-Telefongesellschaft ist entweder überfordert oder betreibt Sabotage: Die Überwachungsleitungen brechen häufig zusammen, die Verständigung ist oft nur via Satelliten möglich. Dennoch erreiche ich die Rekordzahl von vier Schäfchen, die mit den veränderten Bedingungen sehr unterschiedlich umgehen. Bemerkenswert ist vor allem eine junge Frau, die sich zunächst lange dagegen wehrt, ihre Überwachsungskamera anzuschalten. Doch ihr Apfel-Telefon nötigt sie dazu, alle Kanäle freizugeben, so sehe ich einen kleinen Ausschnitt ihrer Stirn und ganz viel Zimmerdecke. Dann höre ich ein fast ohrenbetäubendes Schlürfen und Blubbern, Dampfschwaden ziehen durch das Bild und ich bitte das bedauernswerte Mädchen, ihr Mikrofon zumindest etwas herunter zu regeln. In klarem und nüchternem Zustand dürften einige mit der Einzelhaft Probleme haben, vermute ich, während ich die Aufgaben des Tages stelle.

In dieser Woche offenbart sich das ganze Elend eine Landes, das sich noch immer auf den Lorbeeren der Vergangenheit ausruht und die letzten Jahrzehnte komplett verschlafen hat. Schlimmer noch: Wir entwickeln uns zurück. Behörden lassen Dokumente, die sie in ihren Briefkästen finden, von externen Dienstleistern einscannen, um sie per E-Mail an die zuhause sitzenden Mitarbeiter zu senden. Schüler bekommen ihre Aufgaben in ausgedruckter Form per Post zugestellt, wenn die Postautos nicht gerade im Schnee stecken geblieben sind. Nahverkehrsgesellschaften stellen ihren Schienenverkehr ein, weil das Eis ihre Schienenanlagen gesprengt hat. Großtante Dorle ist fassungslos: “Früher fuhren die Bahnen und die Fußwege waren geräumt. Warten die denn heutzutage alle, bis der Schnee von alleine schmilzt?” Es scheint fast so. Andere lachen sich ins Fäustchen, zum Beispiel unser alter Erzrivale England. Haben die Briten über die Festtage noch vergeblich auf ihre Austern aus Frankreich gewartet, wähnen sie sich dank ihrer neuen Impfstoffhoheit ganz vorne. Während Deutschland jammert, dass falsch bestellt und eingekauft wurde (wenigstens sind mit zwei Wochen Verspätung die FFP-2-Masken in Schulen angekommen – wahrscheinlich Kontingente, die die Briten nicht mehr brauchen, weil sie bald alle geimpft sind), triumphieren unsere Freunde von der Insel und frohlocken: “Im Sommer werden wir Mallorca für uns haben!“

Doch nicht nur auf dem blauen Planeten ist der diesjährige Run auf die besten Liegestuhlplätze bereits in vollem Gange, auch der rote erfreut sich wachsender Beliebtheit. Während die Amerikaner ihrer aktuellen Mission den für ihre Verhältnisse ungewöhnlich realistischen Namen “Durchhalten” geben, stellen die Chinesen ganz forsch “Fragen an den Himmel”. Fliegen, aber noch nicht auf dem Mars landen dürfen die Novizen aus den Emiraten. Sozialpolitisch noch fest im Mittelalter verhaftet, machen sie gerade erst ihren interstellaren Freischwimmer. Aber was machen eigentlich die Russen?

Ich weiß nur, was Genossin Stefanowa macht. Noch vor Ablauf der ersten Distanz-Woche hat sie ganz alleine die Zuwege unseres Fachwerkbarackenkomplexes vom Schnee befreit. Denn sie hat ihr Ziel noch immer fest im Auge. “Weicheier, diese Deutschen”, flucht sie beim Schippen in sich hinein, “im Kessel von Demjansk, da haben sie doch auch nicht einfach aufgegeben.” Sie trickst die Königin und deren Vasallen aus, ignoriert die Länderfürsten, ihre eigene Heeresleitung und sämtliche Behörden. Auch die für die Verwaltung junger Arbeitsloser. Genau die sollen bei uns nämlich “integriert” (Neudeutsch für “umerzogen”) werden – mit täglichem Morgenappell, kontinuierlicher Festigung der eigenen Moral durch das Beantworten mehrseitiger Fragebögen zur Ermittlung der eigenen Defizite und regelmäßigen Hofpausen. Denn darauf sind wir hier im Lager spezialisiert, deshalb lässt Stefanowa unsere Lieben ebenso wie den Kameraden Petrowski bereits zu Beginn der zweiten Wochenhälfte wieder im Lager antreten. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass Petrowski und ich unsere Billigmasken gestellt bekommen, während die Zwangsrekrutierten selber welche mitbringen müssen.

Heimunterricht ist kein Unterricht für unsere Vorgesetzte, keine “Alternative”, wie die Königin sagen würde. Ob es ihr dabei primär um die Erziehung oder um das ganze Berichtswesen drum herum geht, ist nicht exakt auszumachen. Vielmehr scheint für Genossin Stefanowa beides untrennbar zusammenzugehören. Wie ein Lebenselixier, eine höhere Aufgabe bis zur Selbstaufgabe, und ein Fluch für alle, die in ihrer Kolonne dienen und lernen. Sie gehört zu den Menschen, die ihre antrainierte Struktur auch dann noch aufrechterhalten, wenn ringsumher bereits alle Strukturen weggebrochen sind. An irgendeinem Punkt in ihrem Leben muss sie zu einer Überzeugung gelangt sein, von der sie nicht mehr abrücken kann. An diesem Punkt hat sie ihre Laufbahn als ewige Unteroffizierin manifestiert. Menschen wie die Genossin Ludmilla Stefanowa sorgen für die kleinen Geschichten, die harmlos beginnen und am Ende den Stoff für große Dramen liefern.

Dem Wochenbericht Petrowskis kann ich entnehmen, dass unser Lager wie vergessen hinter aufgehäuften Schneemassen schlummert, die das Abstellen von Fahrzeugen fast unmöglich machen. In den Baracken selbst herrschen eisige Temperaturen, das regelmäßige Lüften tut sein übriges. Nur Genosse Bernado hat in seiner Dienststube einen bollernden Kanonenofen. Im Gegensatz zu unserer Vorgesetzten pflegt er einen eher südländischen Lebens- und Arbeitsstil, ignoriert Parkregelungen und Maskenpflicht. Bernado weiß, wo es in der Gulag-Stadt auch jetzt noch genießbares Essen gibt und wie man selbst in Ausnahmezuständen wie diesen angenehme Win-Win-Situationen generiert. Mein Kamerad weist mich auch darauf hin, dass die Genossin Stefanowski den Betrieb nicht nur aufrechterhält, sondern auf Teufel komm raus neue Zöglinge rekrutiert. Kommenden Montag bin ich wieder im Wachdienst. Ich werde mich warm anziehen müssen – in jeder Hinsicht.

“Gehen Sie nicht über 'Test', begeben Sie sich direkt in Quarantäne. Setzen Sie 14 Runden aus und kaufen Sie nicht ein – weder Lebensmittel, noch Bahnhöfe oder Straßen. Wenn Sie noch kein Haus besitzen, begeben Sie sich neben das Feld, auf dem Sie gerade stehen, und lassen Sie alle anderen mit Sicherheitsabstand passieren. Wenn Ihnen von diesen Sanktionen schwindelig wird oder andere Beschwerden auftreten, versuchen Sie, einen Arzttermin zu bekommen. Desinfizieren oder waschen Sie sich mehrmals täglich die Hände und wechseln Sie regelmäßig Ihre Maske – egal, ob jemand anderes in der Nähe ist oder nicht. Achtung: Essen Sie auf keinen Fall zusammen mit Ihrem Lebenspartner. Viel Glück!”

Wenn Sie diese Karte ziehen, haben Sie nicht verloren, sondern gewonnen. Außer, Ihnen steht ein freudiges Ereignis oder ein Krankenhausbesuch bevor. Wenn man näher als drei Meter an einem Menschen vorbeikommt, der sich später als “positiv” coroniert herausstellt, muss man sich beeilen. Mit oder ohne die nicht funktionierende App (gibt es die überhaupt noch) hat man gute Chancen, ein paar Tage zu gewinnen. Die Infektionsdaten werden ja manuell durch die Gegend getragen und irgendwo hingefaxt, wo am Wochenende niemand ist – oder die Zuständigkeit unklar ist. Übrigens zieht man diese Karte nicht, sondern das Gesundheitskombinat schickt sie als vierseitigen grauen Brief frei Haus. Oder auch nicht. Der Inhalt entspricht ungefähr dem Obenstehenden, bis auf die nette Schlussformel. Denn mit Glück hat das Prozedere in der Realität nichts zu tun. Vielmehr mit Bürokratie, und da wird bekanntlich langsam gemahlen. Sehr langsam. Dafür aber mit Vorliebe im Imperativ formuliert. Der aktuell verwendete Quarantäne-Brief enthält gegen Ende beispielsweise diese Sequenz:

Sollten Sie den die Abtrennungen betreffenden Anordnungen nicht nachkommen oder lässt das Verhalten darauf schließen, dass meinen Anordnungen nicht ausreichend Folge geleistet wird, werde ich beim zuständigen Amtsgericht nach § 30 Abs. 2 IfSG beantragen, Sie zwangsweise in einer geeigneten abgeschlossenen Einrichtung abzusondern. Das Grundrecht der Freiheit der Person kann insoweit eingeschränkt werden.“ Direkt danach folgt eine charmante Bußgelddrohung, und enden tut das Schreiben mit der Grußformel “Hochachtungsvoll”.

Ich frage mich: Kann man aus diesem papiergewordenen Monster überhaupt irgendeine Form von “Achtung”, geschweige denn “Hochachtung” herauslesen? Interessant auch, dass “Das Schloss” (kaffkaeskes Synonym für Bürokratie) in seinen Anordnungen einerseits die Ich-Form verwendet, die Aktivität des Internierten jedoch im Neutrum gehalten ist. Vielleicht, um es nicht ganz so drohend wirken zu lassen, wie es doch gemeint ist? Bestimmt hat man diesen Text in Bayern verfasst. Herr Söders Beitrag zum Kampf gegen Corona.

Besonders originell zeigt sich dieses Jahr auch der Karneval. Die Feiernden (was feiern sie eigentlich?) sind kaum zu unterscheiden von den vielen Pappkameraden, die zwischen ihnen postiert sind. Als wären diese Veranstaltungen im Südwesten und am Rhein auch ohne Corona nicht schon peinlich genug, zeigt sich 2021 eine Sinnentleerung, die nicht nur uns Norddeutschen auffallen dürfte. Fußball ohne Zuschauer im voll betriebenen Stadion hat ja wenigstens noch den Fußball. Doch Büttenreden ohne echte Lacher sollten nun wirklich nicht auf den besten Sendeplätzen von ARD und ZDF (die ich mitbezahle!) liegen, sondern ihre Heimat eher auf irgendwelchen Nebenkanälen von WDR, HR oder SWR finden. Doch dazu komme ich in den kommenden Wochen noch ...

Den wirklich nachdenklich stimmenden Schlussakkord dieser Woche bildet die Schneedecke in unseren Gärten. Denn die ist nach nun genau einer Woche noch weitestgehend intakt. Keine Kinderfußstapfen, kein Schneemann oder Schnee-Engel, keine Schneetupfer an Fenstern und Hauswänden. Wo sind bloß all die Kinder der Nachbarn, die hier ihre Parzellen haben? Die Kinder, die im Sommer durch unsere Beete rennen und ihr Spielzeug überall herumliegen lassen? Eines dieser Kinder hören wir den ganzen Tag aus der Wohnung unter uns. Es poltert und krakeelt, als hätte es nicht genug Auslauf. Als ich klein war, kam ich am Ende eines schneereichen Sonnentages völlig durchgefroren, durchnässt und ausgepumpt nach Hause. Mal waren meine Handschuhe weg, mal der Schlitten kaputt – doch stets bin ich abends todmüde ins Bett gefallen und glücklich eingeschlafen.

In diesem Jahr scheinen viele Kinder den wahrscheinlich schneereichsten Winter ihres Lebens nicht einmal richtig mitzukriegen. Maximal lassen sie sich vom Vater zum nächsten Rodelberg ziehen, um dann ein paar Mal herunterzurutschen. Kein Wunder, dass sich da keine Immunkräfte aufbauen. Wenn Kinder keine unmittelbaren Naturerfahrungen sammeln und nicht ausloten, was sie wirklich leisten können und wo ihre Grenzen liegen – was wollen wir dann später von ihnen erwarten? Im Zusammenspiel mit einer viel zu frühen Medienüberflutung in überheizten Wohnungen und völlig überforderten Eltern, denen so wenig einfällt, dass sie sich bestenfalls noch trennen können, kommt dann leider genau das dabei heraus, was ich in meinen unterschiedlichen Tätigkeiten im Schul- und Ausbildungswesen seit Jahren kennen lerne. Trauriger Rekord bisher: Eine 8. Klasse, die zu mehr als einem Drittel aus Lese- und Rechtschreibschwäche, Dyskalkulie, Förderbedarf Lernen, Konzentrationsstörungen, auditiven Störungen, verzögerter Entwicklung und mangelhaftem Spracherwerb besteht. Manche Eltern scheinen auf ihrer verzweifelten Suche nach dem ganz Besonderen an ihrem Liebling auch nicht davor zurückzuschrecken, mit dessen Autismus hausieren zu gehen. Aber was hat das nun eigentlich mit Corona zu tun? Ganz einfach: Die unter Home-Schooling-Bedingungen aufgestellte Förderbedarfsliste für die oben erwähnte Klasse hätte man auch schon vorher, während der regulären Präsenzzeiten erstellen können. Nur hat das Lehrpersonal diese Defizite da noch kaschieren und abfedern können. Jetzt, da die Schüler zuhause, alleine vor dem Monitor sitzend, vom Unterricht abgehängt werden oder sich selbst abhängen, kann das Dilemma den nun direkt Zeuge werdenden Eltern nicht mehr verborgen bleiben. Jeden Tag erleben sie live und in Farbe das Breitwanddrama, das sonst nur am Schauplatz Schule abläuft. Deshalb läuten die Alarmglocken nun richtig laut. Wie leider meistens also erst dann, wenn alles lichterloh brennt. Allein dies wäre ein Grund, den sogenannten Lockdown noch möglichst lange beizubehalten: damit alle Beteiligten lernen, multifunktionale Bildungskonzepte zu entwickeln und umzusetzen.

Apropos überforderte Eltern: Gerade demonstrieren in Berlin Lieferando- und Wolt-Fahrer, die bis zu zehn Stunden täglich durch Schnee und Eis gescheucht werden, ohne dass sie an den deutlich gestiegenen Corona-Gewinnen ihrer Unternehmen beteiligt werden. Die Kunden interessiert das nicht, sie wollen nur ihr Essen, und zwar “in time”. Ein kleiner Junge fragt seine Mutter, was der Spruch “Hört auf, Essen zu bestellen!” auf den Schildern der gebeutelten Fahrradkellner zu bedeuten habe. Die TAZ kennt die Antwort der Mutter: Sie erklärt ihrem Sohn, dass die Demonstanten wollen, dass die Leute selber kochen.

Was, um alles in der Welt, machen die Menschen eigentlich die ganze Zeit zuhause?

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