Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 3.29

Das Logbuch geht weiter: Anger is an energy

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Irgendwer kann uns immer angreifen – oder unsere Energieindustrie, was fast auf das Gleiche hinausläuft. Zumindest nach aktueller Politiker- und Medieneinschätzung. Die allseits kolportierten Explosionen an der Gaspipeline in dieser Woche erschüttern das Gemüt offensichtlich stärker als das Meer, wenngleich die Emissionen ebenfalls äußerst ärgerlich sind. Doch ist unser Gemüt wirklich erschüttert? Schließlich sind die Orte des Geschehens auch diesmal weit weg, irgendwo oben bei Skandinavien. Aber kalt wird es hier, so ein Mist aber auch!

Der 3-Tage-Bartträger der Netzagentur schimpft mit dem deutschen Verbraucher: Hat der doch statt des geforderten Energiesparens bereits die erste etwas kühlere Woche – noch im September – genutzt, seine Heizung schon mal vorglühen zu lassen. Ein einzelnes Individuum ist der Verbraucher übrigens gar nicht mehr, sondern offensichtlich wird so etwas heutzutage im morgendlichen Familienrat gemeinsam beschlossen. Ich versuche mir diesen Familienrat bei Familie Weichei in Wichtighausen bildlich vorzustellen. Da sitzen sie wie in der Margarinewerbung bei strahlendem Sonnenschein, der durch die große Glasfront der guten Ikeastube strahlt, an ihrem Nutella-Müsli-Obst-O-Saft-Tisch und der Vater erhebt das Wort: “Kinder, wir müssen reden. Über unseren Energiehaushalt.” Die kleine Tochter nölt, dass wohl schon wieder jemand mit dem Esslöffel im Nutella war, und der nur unwesentlich größere Sohn reagiert prompt: “Wieso Energie? Die Wärme kommt doch aus der Heizung!” “Ja, aber dafür brauchen wir leider das Gas von den kriminellen Russen, die die Ukraine überfallen haben…”, kontert der Vater, bevor ihm die Mutter ins Wort fällt: “...und die haben jetzt auch noch ihre eigene Gasleitung in die Luft gesprengt, die Verbrecher. Und jetzt sagen sie im Fernsehen, dass jedes Kraftwerk von Terroristen bedroht ist!” “Das ist nicht logisch”, meldet sich der Sohn, “Terroristen brauchen doch auch Energie, oder?” “Schon”, sagt der Vater, „aber die kriegen sie ja von den bösen Ländern, und wir gehören zu den guten Ländern”. „Ach, und die guten Länder kriegen ihre Energie auch von den bösen Ländern?“, folgert der Sohn messerscharf. Während die kleine Tochter sich beschwert, dass keine Corn Pops auf dem Tisch stehen (sie sagt aus Versehen immer “Porn Cocks”, worüber heute morgen niemand lacht), will die Mutter den Familienrat abkürzen, weil sie als erste zur Arbeit muss: “Was Papa sagen will ist: Entweder wir heizen, oder wir sparen Geld für einen vollen Weihnachtstisch.” “Weihnachten ist doch noch ganz weit weg”, weiß es der Dreikäsehoch einmal mehr besser, “und wenn wir Glück haben, kommt der Klimawandel im Winter nochmal zurück und es wird ganz warm.” “Darauf sollten wir uns nicht verlassen,” mahnt der Vater in weiser Voraussicht, “wir sollten uns darauf einstellen, dass wir uns dieses Jahr nicht alle Wünsche erfüllen können. Wir könnten über Weihnachten auch auf Tante Mechthilds Finca nach Mallorca fliegen. Da haben wir es warm, andere Geschenke als die Reise selbst brauchen wir auch nicht unbedingt und jeden Tag gehen wir essen...” Jetzt steigt sogar die Tochter sachbezogen ein: “Das geht nicht! Ich wünsche mir doch das neue iPhone zu Weihnachten, deshalb darf das nicht ausfallen!” “Dann krieg ich aber auch einen Gaming-Computer!”, pocht nun der Sohn auf sein Recht. Vater will die Gelegenheit nutzen und tönt: “OK, dann bleibt die Heizung heute aus, wir sind ja sowieso alle in der Schule und auf Arbeit!” “Geht leider nicht”, schaltet sich die Mutter wieder ein, “heute Abend kommen meine Mädels und...”

Wie der Familienrat endet, interessiert uns nicht, entscheidend ist nur das Resultat – und das ist denkbar einfach: Die Heizung läuft den restlichen September über und durch bis in den April, die Kinder bekommen ihre Weihnachtsgeschenke und weil der Klimawandel im Winter starke Schneefälle hervorruft, geht es über Sylvester nach Mallorca – wenn Corona und die Fluglinien mitspielen. Denn wir sind ein reiches Land. Und schließlich verbindet uns in Deutschland nichts stärker als der Glaube daran, dass wir uns mehr leisten können als andere – und vor allem mehr, als wir selber haben, beziehungsweise produzieren können. Wenn dieser Glauben zerstört wird, was haben wir dann eigentlich noch außer unserer permanenten Angst vor allem Möglichen?

Plakatwände im Osten der Republik bedanken sich beim Bürger fürs Energiesparen, noch bevor der Winter überhaupt begonnen hat – prophylaktisch, nehme ich an. Oder sind die Leute hier wirklich sparsamer? Zumindest in den alten Bundesländern gilt für viele noch immer: Motor laufen lassen, wenn man schnell in einen Laden muss und der Hund derweil die Standheizung benötigt, ganzjährig in den eigenen vier Wänden im T-Shirt herumsitzen und eine geschlagene Stunde lang duschen, weil man sonst stinkt.

Dass das Ändern von Verbrauchsgewohnheiten reibungslos klappt, darf bezweifelt werden. Meiner Mutter beispielsweise bringe ich jedes Mal zwei Stück Butter mit – und ihre Nachkriegserfahrungen liegen immerhin schon mehr als 75 Jahre zurück. Wir Babyboomer wiederum sind darauf konditioniert, alles „für'n Appel und'n Ei“ zu kriegen.

Und bisher hat kaum jemanden interessiert, aus was für „Schurkenstaaten“ unsere billigen Konsumgüter kommen oder unter welch skandalösen Bedingungen sie hergestellt werden.

Ob nun hinter den Pipeline-Attentaten der Kapitalismus oder der Terrorismus steckt, oder beide, ist letztendlich egal. Hauptsache, irgendwer ist wütend auf irgendwen anderes. Mit Corona hat sich die deutsche Wut – und damit meine ich weniger die sogenannten „Wutbürger“ – bereits warmgelaufen. Wegen des Krieges legen wir jetzt noch eine Schippe drauf, und das ist höchstwahrscheinlich noch nicht das Ende der gesamtgesellschaftlichen Erhitzung. Könnten wir da nicht einfach mal versuchen, unsere Wut als Heizenergie zu nutzen?

Schon der britische Philosoph John Lydon, der sogar auf die Queen wütend sein konnte, wusste: „Anger is an energy!“ Dagegen kann die verpäppelte Jugend von heute mit ihren Energy-Drinks definitiv nicht anstinken. Also legt euch besser Daunenbetten zu und bleibt den Winter über im Bett, Kids.

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