­Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 4.43

Das Logbuch geht weiter: Für den kleinen Silvesterkrieg: die Stalinorgel aus Pappe

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Die Nachrichten am ersten Januar habe ich mir dieses Jahr gespart – so, wie ich mir auch Silvester gespart habe. Es geht auch mal ohne, dafür feiert man in anderen Jahren so üppig, dass sich das wieder ausgleicht. Für manche scheint „Ausgleich“ an Silvester jedoch reine Zerstörungswut zu bedeuten, eine Art Kriegszustand. Dazu passend haben wir jetzt diese Stalinorgeln aus Pappe: eine Box voller kleiner Pappröhren, es mögen 30, 40 oder mehr pro Box sein, aus denen irgendein umweltbelastender Dreck geschossen wird. Aus der Nähe angeschaut habe ich mir das in der Kriegsnacht ja nicht, doch als ich am ersten Januar mit dem Rad unterwegs war, offenbarte sich das ganze Elend – überall in der Stadt. Wer braucht sowas? Oder anders gefragt: Wer braucht Menschen, die sowas brauchen?

Besonders schockiert hat mich am Ersten der Anblick eines kleinen zentralen Platzes, der am Anfang einer lauschigen Fußgängerallee in einem unserer ruhigsten Stadtteile liegt. Dort gab es zwei Briefkästen, eine Telefonzelle (alleine die müsste unter Denkmalschutz stehen) und einen Bücherschrank. Am Neujahrstag sind beide Briefkästen aufgesprengt – die Frontseiten samt Post sind über den Gehweg verstreut, das Glas der Telefonzelle ist zerschlagen – ebenso wie das Glas an einigen Bushaltestellen, die hier gegenüberliegende war neu errichtet, nun muss von vorn begonnen werden – und das Innenleben des Bücherschranks ist extremst demoliert – Bücher, Regale und Klappen – hier war neben Sprengstoff auch physische Gewalt am Werk. Dass der magentafarbene Hörer noch auf der Gabel des Fernsprechers hängt, muss dem Umstand geschuldet sein, dass die verursachenden „Vandalen“ – was übrigens von Historikern als Beleidigung des vorchristlichen Volksstammes angesehen wird, dem dieser Name entlehnt ist – gar nicht wissen, wozu dieses Gerät überhaupt dient. Das gesamte Szenario legt die Vermutung nahe, dass sie weder lesen, noch schreiben oder verbal kommunizieren können, wollen oder alles zusammen. Dabei könnte man das leicht herausfinden, denn man weiß, wer die Zerstörungswütigen sind und wo sie wohnen – nämlich direkt an der Straßenecke, an der das Massaker angerichtet wurde. Es gibt sogar eine Überwachungskamera dort, die alles erfasst hat – doch leider sind die Aufnahmen sehr dunkel. Nun gibt es jedoch auch Zeugen, die alles beobachtet haben und wissen, um wen es sich bei den Tätern handelt – doch leider sieht die Polizei sich nicht in der Lage, die gesetzlich vorgesehenen Schritte einzuleiten: Man wolle die armen Menschen, die ihrer Herkunft nach zu urteilen kriegsgeschädigt sein könnten, nicht zuhause stören. Wozu auch – eine Anzeige bliebe erfahrungsgemäß ja sowieso ohne Konsequenzen.

Wenige Tage später sind die Briefkästen repariert, Telefonzelle und Haltestelle sind mit Bauband abgesperrt und der Bücherschrank wurde entfernt. Irgendwer hat (fast) alles wieder in Ordnung gebracht, irgendwer bezahlt dafür und irgendwer ist sicher auch traurig, dass es an dem Platz keine Bücher mehr gibt. Wird dort bald ein neuer Schrank stehen – oder verzichtet man zukünftig besser auf diese charmante Form der nachbarschaftlichen Lesekultur, um die militanten Analphabeten von nebenan bloß nicht weiter zu provozieren? Dass Ereignisse wie dieses den Respekt vor unserem (noch immer) so genannten „Rechtsstaat“ seit einigen Jahren schwinden lassen, scheint insbesondere die staatlichen Organe selbst nicht besonders zu interessieren – während mehr und mehr der so genannten „anständigen“ Bürger (übrigens auch der zugewanderten) nur noch den Kopf schütteln können. Kann es unter diesen Umständen noch verwundern, dass über die Möglichkeit einer schwarzblauen Koalition nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird?

Wirklich wehren wollen und können sich anscheinend nur unsere jüdischen Mitbürger: Wie ich aus den Nachrichten erfahre, haben sie erreicht, dass selbst rein verbale Attacken gegen sie und ihre Kultur mit bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe geahndet werden können. Wie wäre es denn dann, wenn man in jedem unserer Bücherschränke die Tora nebst anderer Teile des Tanach platzieren würde – ganz prominent und auf Augenhöhe?

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