Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 4.47

Das Logbuch geht weiter: Die kranke Nation

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Deutschland will stets Spitze sein – ist das genetisch bedingt? Das beste System, der beste Fußball, die besten Autos, die besten Panzer – selbst von unserer „Kriegstüchtigkeit“ wird ganz ohne Scham in den Achtuhrnachrichten gesprochen – und, und, und. Doch mit unseren Genen scheint es rapide bergab zu gehen, denn auch in diversen Krankheits-Rankings belegen wir Spitzenpositionen. Beispielsweise bei den “Gesundheitsausgaben“ – welch merkwürdiges Wort angesichts des Umstandes, dass man Gesundheit bekanntlich nicht einfach so kaufen kann – und bei den Krankheitstagen von Angestellten. Nach den langen Ausfallzeiten, die wir uns leisten können, werden wir dann mit sogenannten „Rehas“ belohnt, um wieder fit für den Arbeitsalltag zu werden. Tragische Erkenntnis: Auch Krankheit kann zum Alltag werden. Einige verbringen mit ihrem Gesundungsmarathon so viel Zeit, dass sie den Anschluss an die Arbeitswelt völlig verlieren und so manch ein Rehabilitant nutzt die gegebenen Optionen direkt, um ganz elegant in die Rente zu gleiten. Beratungen und Hilfen dazu gibt es zur Genüge – ebenso wie zu Umschulungen oder Ausbildungen – auch in fortgeschrittenem Alter.

Meine Recherchen hierzu führten mich nun in eine sogenannte „ambulante Reha“. Morgens hin, ab durch den Maschinenpark, Sitz- und Bewegungsgruppen, Einzelgespräche und immer wieder Messungen – dazwischen Pausenzeiten, die an Länge locker mit den Anwendungen mithalten können. Am beliebtesten in meiner Reha ist die „Hydro-Massage“ – eine Art Wasserbett, das Personalkosten und -anstrengungen einspart, indem es einen mittels Düsen massiert. Übrigens: Spitze ist man auch in der Reha, und zwar im „Messen, Steuern und Regeln“. Mediziner und Therapeuten klügeln einen Plan aus, mit dem man auf bestimmte Herzfrequenzen und Trainingspulse getrimmt werden soll. Da ist es dann auch völlig egal, ob man der Pünktlichkeit zuliebe 20 Minuten im Sturmschritt zur Reha unterwegs war: Wenn man aufs Trimm-Dich-Rad steigt, soll man Ruhepuls haben. Wenn man zu viel macht und der Puls hochgeht, soll man sich herunterfahren; doch wenn man dabei zu gemütlich wird, will einen der Trainer auf mehr Leistung bringen. Zwischen den Langzeit-EKGs werden normale EKGs gemacht und zwischen den Blutdruckmessungen unter Belastung muss man selbst noch welche vornehmen. Dramaturgische Höhepunkte des Tages sind jeweils die Einheiten, bei denen die Therapeuten permanent gegen irgendeine Musik anschreien, um Zeiten, Daten und Werte durch den Raum zu werfen und dabei abzufragen, wie man sich fühlt. Anwendungsferne physische und psychische Einflussfaktoren, wie es sie auch im „normalen“ Leben gibt, hat es in dieser Parallelwelt nicht zu geben. Man soll so funktionieren, wie es die Übungsleiter vorgeben und für ihre Datensammlung brauchen. Mentale Betreuung: Fehlanzeige – wobei es eine Dame beim Sozialdienst gibt, die zumindest kurzzeitig suggeriert, Anteil an deinem Leben zu nehmen. Schade nur, dass sie sich nach zwei Wochen nicht mehr daran erinnert, was sie dir eigentlich Gutes tun wollte.

Besonders absurd ist das Szenario auf dem Laufband: Man schaut beim Gehen aus einem Panoramafenster auf einen Schulhof, wo sich Kinder tummeln. Die wiederum schauen herüber und scheinen sich zu fragen, in was für eine Art Anstalt sie da eigentlich Einblick erhalten, in der sich überwiegend ältere Menschen bewegen wie Marionetten. Doch so alt sind hier gar nicht alle – es ist erschreckend, wie viele juvenil fit wirkende Kranke es in Deutschland mittlerweile gibt. Das Laufband reduziere ich im Folgenden aufgrund meines insgesamt 50-minütigen Fußmarsches hin zur Reha und wieder zurück nach Hause auf ein Minimum – besser gesagt: auf ein Schaulaufen für die Therapeuten, um guten Willen zu zeigen. Das stumpfe Radeln auf der Stelle stört mich jedoch dermaßen, dass ich nach diversen Protesten von einer einsichtigen jungen Trainerin die Genehmigung bekomme, auf dem Rad zu lesen – man sitzt dort immerhin geschlagene 30 Minuten. Die Leseerlaubnis leitet eine wundersame und gleichwohl beunruhigende Wende ein, ...

… denn ich gewöhne mich an die Reha und lerne, sie so zu akzeptieren – fast schon zu „lieben“ – wie einen beruflichen Arbeitsalltag. Mit einem Unterschied: Das Essen in der Kantine ist kostenlos. So verlängere ich dankbar um zwei Wochen und sehe zu, dass ich übermäßige Wartezeiten vermeide, indem ich Randanwendungen morgens und nachmittags wegen dringender Termine ausfallen lasse. Nur die Hydro-Massage, die sollte man nie – absolut niemals! – verpassen.

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