Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 4.51

Das Logbuch geht weiter: „Democracy for sale“ oder „... for free“?

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Gerade lese ich wieder von einer neuen Partei: Ein humanistischer Lautsprecher-Konstrukteur aus der Schweiz gründet eine EU-Partei und bittet um Unterstützung. Selbstverständlich unterstütze ich seine Partei – ist die Schweiz im europäischen Parlament doch dramatisch unterrepräsentiert. Wir brauchen definitiv mehr Schweiz in Europa – zumindest bezüglich der Einstellung zu Demokratie, Bürgerbeteiligung, Neutralität und Selbstverteidigung. Die schmutzigen Wirtschaftspraktiken der Schweiz muss man ja nicht unbedingt übernehmen. Oder gehören Demokratie, gepaart mit Wohlstand im eigenen Land, bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Ausbeutung anderer Länder untrennbar zusammen? Schweden scheint – exemplarisch festgemacht am Beispiel des IKEA-Konzerns – diese hypothetische Frage mit JA zu beantworten, während China das Gegenteil zu belegen scheint: Man kann auch die eigenen Leute wirtschaftlich ausbeuten, ohne sie an Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen. Jahrzehntelang war China sehr erfolgreich damit und erfindet auch jetzt noch ständig Neues.

Nach „Tik Tok“, dem Verdummungsportal für Analphabeten mit Aufmerksamkeitsdefiziten, sorgt mit „Temu“ nun ein Billigheimerportal mit dem Slogan „Shoppen wie ein Milliardär“ für das Abschalten der Gehirne. Was auffällt: Die Namen derartiger Produkte erinnern in ihrer kindgerechten Harmlosigkeit an den „König der Löwen“, haben mit einer aufgeklärten, selbstbestimmten und fairen – kurz gesagt „besseren“ – Welt allerdings herzlich wenig zu tun. Vielmehr ist es ein verheerendes Spiel mit gegebenen Möglichkeiten, alles immer billiger oder ganz kostenlos zu bekommen. „Billig“ und „demokratisch“ jedoch schließen sich nach unserem mühevoll über Jahrhunderte entwickelten Wertesystem fast zwangsläufig aus, weil Demokratie teuer ist, schwer zu bekommen und noch schwerer und kostenintensiver zu erhalten. Temu-Produkte sind billig und werden nicht verteidigt, sondern man kann sie leichten Herzens entsorgen, wenn sie Schrott sind.

Andersherum könnte man auch hieb- und stichfest behaupten, dass Demokratie billig sein muss: Jeder in einer Demokratie Geborene bekommt sie in die Wiege gelegt, kann kostenlos mitmachen – auch ohne zur Wahl zu gehen, sondern stattdessen zu Demos – und jeder kann in Deutschland seine eigene Partei gründen, was dem Hörensagen nach wohl preiswerter als der Führerscheinerwerb ist. So, wie man im Internet ohne besondere Kenntnisse und Qualifikationen sein eigener Meinungs-Mogul und Klickzahl-Millionär sein kann, der sich ohne je etwas verinnerlicht zu haben äußern kann, benötigt man auch dafür keine fachlichen Kompetenzen. Das einzige, was man haben sollte, ist ein gerüttet Maß an Überzeugungswillen – denn wer sich in einer Demokratie durchsetzen will, muss möglichst viel Volk hinter sich bringen. Dabei ist es ein weit verbreiteter Irrglauben, dass es eigentlich nur „Rechtspopulismus“ gibt. Wir haben heute gleichermaßen einen ausgeprägten „Mitte-Populismus“ – alle wollen ausgesprochen mittig sein und sich von den Rändern abgrenzen. Und wenn alle Mitte sind, setzt sich natürlich der Teil der Mitte durch, der sich besonders populär zu machen versteht. Fast alle Politiker arbeiten mit Schlagworten und können es sich mittlerweile leisten, auf Versprechungen zu verzichten, denn mit Angriffen auf seine politischen Gegner kann man mindestens genauso erfolgreich sein und riskiert damit nicht, wegen Nichteinhaltens seiner Versprechen abgestraft zu werden.

Spannend wäre es, die parlamentarische Zulassungshürde auf ein Prozent zu senken – während Beschlüsse mindestens eine 2/3-Mehrheit erfordern sollten. Außerdem müsste endlich der Volksentscheid in Deutschland eingeführt werden: Alle Bürger bekämen beispielsweise einmal im Quartal die Möglichkeit, über allgemein relevante Fragen via Internetportal abzustimmen. Denn trotz einer Flut an parlamentarischen Wichtigtuern – oder gerade deshalb – werden Entscheidungen zunehmend intransparenter und unverständlicher. Manchmal wirkt es gerade so, als setze sich genau das durch, was die Mehrheit der Bevölkerung eigentlich nicht will. Ständig werden in den Medien Meinungsgbilder zu irgendwelchen Themen abgebildet und am Ende steht dann wieder eine Einzelperson, die sich mit Schlagworten wie „Alternativlos“ oder „Zeitenwende“ durchsetzt. Um an dieser Stelle zweierlei klarzustellen: Es gibt immer und ausnahmslos eine oder mehrere Alternativen zu allem und jedem, und Zeit gibt es weder im Plural, noch kann sie sich mal eben so wenden, weil unsere Zivilisation den Begriff „Zeit“ über einen sehr, sehr langen Zeitraum hinweg installiert und dahingehend durchgesetzt hat, dass (die) Zeit permanent voranschreitet.

Manche mögen die rhetorischen Floskeln von Politikern aus Dummheit annehmen – während andere sich für dumm verkauft und in der Opposition sehen. Vertrackt wird es in jedem Fall, wenn man sich einerseits in der vermeintlichen Opposition zur Mitte wiederfindet, obwohl man andererseits sich selbst als Mitte – ausgestattet mit gesundem Menschenverstand und klarem Urteilsvermögen – versteht. Die Dummen verortet man auch in der Mitte, sofern sie als „Mainstream“ durchgehen, und „die Rechten“ sehen sich sowieso als Mitte, wähnen sie doch zunehmend mehr Normalbürger hinter sich. Dagegen nimmt sich die klassische Linke ziemlich anachronistisch aus; ihre Ziele wirken in der heutigen Welt tragischerweise völlig aus der Zeit gefallen. Der neue Hype hingegen scheint „linkskonservativ“ zu werden – das klingt in der Quersumme allerdings auch verdächtig nach Mitte.

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