Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 5.01

Das Logbuch geht weiter: Wer bin ich – und wenn ja, wer ist gegen mich?

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Diese Woche habe ich eine Online-Konferenz mit Freunden, die sich zwar noch mit „Corona” beschäftigen – genau genommen mit dessen sozialen und psychologischen Folgen, den Namen „Corona” jedoch nicht mehr aussprechen wollen. Aber ist das nicht so, als würde man über „N...r” reden wollen, ohne das „N-Wort” zu benutzen? Dem wenig kreativen Vorschlag aus der Runde, „Corona” einfach nur in Anführungsstrichen zu schreiben, wird im Folgenden dann auch nicht mehr widersprochen. Also sei es so – zumal ich gestehen muss: Erstens habe ich keine Lust mehr, auf derartigen Baustellen meinen Einfallsreichtum zu strapazieren, und zweitens wird mein Humor gerne auch mal missverstanden. Auch wenn mir in unserem kleinen Brainstorming sogleich Namen wie „Carola“, „Cordula“ oder „Corinna“ einfallen, halte ich mich dezent zurück – haben wir doch auch Damen (wenngleich keine mit einem dieser Namen) in unserer Runde, die ich nicht brüskieren möchte.

Apropos „Damen“: Bin ich, wenn ich heute noch ein solches Wort benutze, eigentlich ein Rechter? Immer wieder bekomme ich Botschaften, bei denen es Überzeugungen nur im Gesamtpaket mit anderen Überzeugungen gibt, gekennzeichnet häufig durch eine Art „explizite Sprache“, die man/frau gerne zur Norm erhebt, obwohl niemand mir sagen kann, wo sie überhaupt herkommt. Vielleicht wird mein Credo für das fünfte Blogger-Jahr, wieder mehr Humor walten zu lassen – schließlich gehört der Humor zu den zumindest hierzulande und in dieser Zeit am meisten gefährdeten Arten. Also fange ich gleich in der ersten Woche an und kommentiere Rundschreiben, die mir in Haus flattern – Absender (Text in kursiver Schrift) werden aus Gründen des Datenschutzes unkenntlich gemacht:

dieses Wahljahr ist das größte in der Geschichte … In wessen Geschichte?

... und überall drängen rechtsextreme Kräfte an die Macht, die nicht an den Klimawandel, an Frauenrechte oder an demokratische Freiheiten glauben. Woran diese Kräfte glauben, kann ich nicht beurteilen, doch glaubt man nicht eher an Geld, Gott, Gutes oder Gemeines? An den Klimawandel zu glauben, mutet eher wie ein Naturglaube an – wie man an Segen durch Regen oder Fluch durch Feuer glauben kann. Sollte es hier nicht eher um wissenschaftliche Erkenntnisse als um Glauben gehen? Übrigens befinden sich unter den “rechtsextremen Kräften” auch einige Frauen – glauben die denn nicht mal an ihre eigenen Rechte?

Ganz gleich, wo Sie sind, Sie können sich dieses Jahr entscheidend einbringen, und das beginnt mit dem Ausfüllen dieser Umfrage. Nö, das beginnt mit dem Gang an die Wahlurne. Da weiß ich nicht nur, wo ich bin, sondern auch, woran.

A... hat sich vorgenommen, dieses Jahr den Einsatz zum Schutz der Demokratie weltweit kräftig zu erhöhen. Doch das tun wir nicht ohne Ihre Rückmeldung. Ich setze mich auch ohne Rückmeldung von irgendwem für die Demokratie ein – für welche auch immer.

Wir sind eine demokratische Kampagnengemeinschaft, und so entscheidet Ihre Stimme darüber, worauf die A...-Aktivist*innen und diese Gemeinschaft dieses Jahr den Schwerpunkt legen und wie wir unsere Mittel einsetzen. Meine Stimme? Ganz alleine? Und was tut ihr, wenn ich meine Stimme für Klimawandelleugnen, Frauenunterdrückung und undemokratische Unfreiheiten abgebe? Setzt ihr eure Mittel dann gegen mich ein?

Die AfD ist noch da – mit sinkenden Zustimmungswerten zwar, aber immer noch viel zu stark. Ihr Erfolg lebt auch davon, dass sie und ihr rechtsextremes Gedankengut viel zu lange nicht ernst genommen wurden. Zwei Monate Demos können das nicht mal eben so ändern. Die AfD hat sich schlimmer in unserer Gesellschaft festgefressen, als gedacht. Rechtsextremes Gedankengut nicht ernstgenommen wurde”? Wohl eher umgekehrt: Gerade weil rechtsextremes Gedankengut ernstgenommen wurde – und zwar seit den 1920er-Jahren – sind wir doch überhaupt nur drin in diesem Schlamassel. Anscheinend nehmt ihr da was nicht ernst genug: Die AFD hat sich nicht “in der Gesellschaft festgefressen”, sondern kommt aus der Gesellschaft – stützt sich sozusagen auf eine gesellschaftliche Unzufriedenheit, die schon vor der AFD da war. Dazu zitiere ich aus einem Interview des Ox-Fanzines von 2001 mit den GOLDENEN ZITRONEN:

Flimmern“, der erste Song auf eurem neuen Album, hat diese großartige Textzeile „Wat solln die Nazis raus aus Deutschland, wat hät denn des für a Sinn - die Nazis könne doch net nau, denn hier gehöre se hin“.

Schorsch:
Das ist nicht von uns, das ist ein Zitat von Udo Lindenberg, das Ted aufgeschnappt hat. Das fiel wohl im Zusammenhang mit dieser Tour gegen Rechts, die Lindenberg vor ein paar Monaten initiiert hatte. Lindenberg forderte, die Nazis müssten raus aus Deutschland, aber dann wurde ihm klar, wie absurd diese Forderung ist. Wo sollen sie denn hin? Nach Afrika? Diese Forderung „Raus!“ ist keine Lösung des Problems. Insofern ist das eine Persiflage dieser Forderung. Das beschreibt die Hilflosigkeit in der Diskussion um den Umgang mit Nazis.

Besonders interessant erscheint mir in Schorsch Kameruns (ist das nicht auch ein Land in Afrika?) Antwort eine Parallele in Details: Während sich Rechte wünschen, die Flüchtlinge würden nach Afrika deportiert, wird hier assoziiert, man könne die Nazis dorthin ausweisen. Leider waren weite Teile beider Gruppierungen schon dort – und sie sind immer wieder in Deutschland gelandet. Also können wir uns die Reisekosten auch von vornherein sparen.

Übrigens denke ich gerne über die Kontextualisierung von Wörtern und im Besonderen von Wortkombinationen nach – so, wie die Formulierung “demokratische Freiheiten” eine bildet. Denn diese beiden Wörter gehören mitnichten zusammen. Im Gegenteil werden sie in der Kombination noch dehn- und interpretierbarer, als sie es ohnehin schon sind. “Demokratisch” steht für die Intention eines kollektiven Machtsystems, während sich “Freiheiten” gemeinschaftlichen Interessen weitestgehend entziehen.

Doch womöglich ist genau das der Punkt: Wenn man Wörter und Wortkombinationen nur lange genug gebetsmühlenartig wiederholt, dann glauben viele Menschen wirklich daran – ohne noch zu hinterfragen, welche Überzeugungen und Absichten dadurch transportiert werden. Könnten diese Gebetsmühlen eigentlich Versuche sein, die Abschaffung unserer Religion(en) zu kompensieren?

In diesem Sinne: Glauben Sie doch, was sie wollen – aber hören Sie nie auf, sich gegebenenfalls selbst eines Besseren zu belehren, falls Ihnen Zweifel am bisher Gelernten kommen.



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