Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 5.03

Das Logbuch geht weiter: Gedanken zum „Nicht-Identitären“

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Zu Ostern finde ich auf meiner Fahrrad-Pelerine zwischen einigen Regentropfen Partikel dessen, was „Saharastaub“ genannt wird. Wie exotisch – da bekomme ich gleich Fernweh. Zum Glück muss man heute nicht mehr reisen, um Exotik zu erleben: Die ist längst bei uns angekommen, bevölkert Straßen, Geschäfte und Lokale, findet in den Medien statt und lebt auch in meinem Haus. Bisweilen ist dieser Saharastaub übrigens so dicht – und diesmal soll er intensiver als jemals zuvor sein –, dass sogar ein Pilot über den Alpen die Orientierung verlieren kann. Nicht wie früher wegen eines zünftigen Schneegestöbers, sondern wegen reiselustiger Partikel, die sich zuhause aus dem Staub gemacht haben, obwohl sie nach Europa eigentlich auch nicht hingehören. Klimawandel – Wertewandel – wer wandelt noch auf sicheren Pfaden?

Hingehören“ ist scheinbar ein Wort, welches in unserer nicht-identitären Welt nicht nur ausgedient hat, sondern von vielen gar nicht mehr verstanden wird. Alles geht, alles „passt“ – nur: fügt es sich auch? Manchmal sind es wohl eher wir etwas schwerfälligen und tendenziell wertekonservativen Menschen, die sich zu fügen haben. Am besten so, dass man es uns nicht anmerkt. Cool bleiben und bloß mich identifizierbar sein als jemand, der (sich) nicht so wandeln will wie die anderen – und der sich nicht mit allem identifizieren will, was ihm vorgebetet wird. Apropos „beten“ ...

... weil Wandlungen auch sehr unterhaltsam und kurzweilig sein können, gehe ich gelegentlich nachschauen, wie sich Dinge ändern, die ich noch von früher kenne. Diesen Sonntag bietet sich ein Gottesdienst an, schließlich ist Ostern. Erstaunlich genug, dass es das Wort noch gibt: „Gottesdienst“ – da steckt das Wort „dienen“ drin, und das ist doch ziemlich aus der Mode gekommen. Unser Gottesdienst beginnt um sechs Uhr morgens, nachdem man vor der Kirche einen kleinen selbstgeschriebenen Zettel in eine Feuerschale geworfen hat. Drinnen bekommt man eine kleine Osterkerze in die Hand gedrückt und setzt sich. Singen muss man nicht sofort, das übernimmt ein kleiner Gospelchor für uns. Es gibt auch keine Orgel, sondern ein elektrisches Piano, das übrigens sehr gut gespielt wird. Der Pastor sieht wie ein Holzfäller oder Grunger aus: gefüttertes Karohemd, schwarze Arbeitshose mit Außentaschen und Camel-Boots. Wie er jedoch in seiner Predigt die Auferstehung schildert, das erinnert weniger an einen Holzfäller, sondern vielmehr an einen „Influencer“ – doch halt: Waren die Missionierenden nicht sowieso die ersten uns bekannten Influencer? Die ersten, die ihre Interessen nicht mit physischer Gewalt, sondern mit moralischen Keulen durchsetzten? Unser Pastor kommt definitiv nicht moralisierend rüber, und trüge er keinen Kollar, würde man ihn gar nicht als Geistlichen ausmachen können. Passenderweise stellt sich heraus, dass dieser Pastor, der neu in der Stadt ist, die Integration digitaler Medien in den Gottesdienst vorantreibt – oder umgekehrt die Integration des Gottesdienstes in die digitalen Medien?

Minuspunkte sammeln tut leider das Abendmahl: Es gibt keinen Wein, sondern Traubensaft – und den auch nicht aus einem angemessenen Kelch, sondern aus Gläsern, wie sie üblicherweise bei Weinproben eingesetzt werden. Das finde ich etwas ernüchternd, da fehlt es mir dann doch etwas an Stil und Authentizität, um diesen gekünstelten Begriff „identitär“ mal zu ersetzen. Etwas unverständlich erscheint mit die asketische Alkoholfreiheit vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass keine Kinder und Jugendlichen in der ansonsten (für die heutige Zeit) sehr gut besuchten Kirche zu entdecken sind. Die wiederum sieht man heutzutage eher bei Fußballspielen, gerne nach 20 Uhr, wenn sie mit Bratwurst im Brot gefüttert werden und das Beleidigen der gegnerischen Mannschaft lernen. Es bleibt die Frage, was für eine Identität der Kirche in Zukunft zukommen wird – insbesondere dort, wo sie nicht mehr wie früher sein kann oder will und sich in neuen Formen und Tonalitäten übt. Pluspunkt des geschilderten Ostergottesdienstes: Die Osterkerze, das Lebenslicht, das wir mit nach Hause nehmen dürfen, ist eine echte Kerzen zum Anzünden – mit echtem Feuer! Gemeinsam gebetet wird übrigens nicht mehr, an dieser Stelle wird Freiraum zur inneren Einkehr und das persönliche Gebet gelassen. Daran könnte man sich gewöhnen. Wie ich den Karfreitag (ohne Kirche) zwei Tage zuvor wahrgenommen habe, das erspare ich Ihnen und meinem Erinnerungsvermögen lieber.

Festzustellen ist: Während der Religionsausübung nurmehr die Rolle als ein Kulturangebot unter vielen zukommt – nach dem Motto „alles kann, nichts muss“, sind der Glaube und die Glaubenskämpfe auf medialer und gesellschaftlicher Basis mittlerweile im Stadion beheimatet.

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