Norbert Bolz ist ein begnadeter Polemiker. Bei Twitter schrieb er kürzlich: „McCarthy ist wieder da – aber diesmal auf der anderen Seite.“ Zuvor tweetete er: „Journalisten sind Politiker, die sich als Journalisten ausgeben.“ Nun ist sein neues Buch erschienen – eine Gelegenheit, Bolz zusammenzuführen mit dem Journalisten und Freitag-Autor Albrecht von Lucke, einem ebenso begnadeten Polemiker, aber von der politisch anderen Seite.
der Freitag: Herr Bolz, Ihr neues Buch „Die Avantgarde der Angst“ ist eine Abrechnung. Sie sagen, die Warnung vor der Klimakatastrophe sei zur religiösen Verheißung geworden. Das erzeuge eine Angst, mit der eine grüne Allianz aus Politik, Wirtschaft und Medien gute Geschäfte machen könne. Sind Sie ein Klimaleugner?
Norbert Bolz (lacht): Ich kenne niemanden, der das Klima leugnet. Und ich kenne auch niemanden, der den Klimawandel leugnet. Mein Problem mit der Klimabewegung ist ein anderes: Ich halte es für falsch, mit apokalyptischen Visionen zu arbeiten. Es gilt unter Klimabewegten als Gemeinplatz, auf die apokalyptische Uhr zu verweisen, nach der es „fünf vor zwölf“ ist oder später. Solche Szenarien bewirken das Gegenteil dessen, was sie erreichen wollen. Sie helfen nicht, Probleme zu lösen, sondern erzeugen neue Probleme.
Damit sagen Sie doch …
Albrecht von Lucke: Tut mir leid, lieber Herr Bolz, da muss ich gleich widersprechen. Ihre Kernthese lautet doch: Eigentlich haben wir es gar nicht mit einem Klimaproblem zu tun, sondern mit religiöser Sektiererei. Aber erst auf Seite 143 – Sie merken, ich habe Ihr Buch sehr genau gelesen – kommt die eigentlich zentrale Frage für dieses Problem: „Wachsen die Gefahren oder einfach nur unsere Ängste?“ Sie beschäftigen sich aber nirgends mit der naturwissenschaftlichen Frage nach den realen Gefahren der Klimakrise, die die durchaus berechtigten Ängste erst hervorrufen. „Wer in der Politik die Aufmerksamkeit der Wähler gewinnen will, muss Probleme erfinden“, heißt es dagegen auf Seite 24. Indem Sie echte Probleme nur als gemachte, als Medienphänomene begreifen, leugnen Sie das eigentlich Vorgehende, nämlich die ökologische Krise.
Bolz: Sie liegen richtig, es geht mir um das medial vermittelte Bild des Problems, aber ich leugne es nicht. Ich habe den Eindruck, dass bei allen großen Problemen unserer Zeit – vor allem Klima und Migration – der mediale Druck auf die Meinungsbildung ein Ausmaß erreicht hat, wie wir das in keinem Jahrzehnt zuvor kennengelernt haben. Es ist wichtig, zu fragen, inwieweit Menschen sich noch eine freie Meinung bilden können über die großen Weltprobleme, wenn sie permanent bombardiert werden mit Propaganda. Mittlerweile ist es doch eindeutig, dass die Grünen die Lieblinge zumindest der öffentlich-rechtlichen Medien sind. Hoffentlich nicht auch die Lieblinge des Freitag, dafür verfolge ich Ihre Zeitung zu wenig.
Zur Person
Norbert Bolz, Jahrgang 1953, war bis 2018 Professor für Medienwissenschaft an der TU Berlin. Seine neue Streitschrift Die Avantgarde der Angst ist im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienen (191 S., 14 €)
Lesen Sie uns gern häufiger. Sie werden überrascht sein, wie kritisch wir die Grünen begleiten.
Bolz: Jedenfalls ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk mittlerweile ein Grünfunk. Da mache ich mir Sorgen, dass diese Ersatzreligion tatsächlich gefährlich ist für unser modernes Selbstverständnis. Die gesamte Umweltbewegung ist ein Angriff auf die Neuzeit.
Lucke: Sie erzeugen das Bild einer völlig vermachteten, grüne Lügen produzierenden Medienlandschaft. Sie behaupten sogar, es gäbe eine dominante grüne Kulturindustrie. Damit benutzen Sie den von Horkheimer und Adorno für die Massenkultur geprägten Begriff und übertragen ihn auf eine grüne Bewegung, die den religiösen Popanz einer neuen Klima-Sekte zum allgemeinen Bewusstsein mache. Sie schreiben in diesem Zusammenhang von einer Infantilisierung der Politik. In Wahrheit ist es doch genau umgekehrt: Greta Thunberg bricht mit ihrer Ernsthaftigkeit in eine infantilisierte Gesellschaft ein, die bis heute die erdrückende Evidenz der Klimakrise verdrängt, wie jedes Fernsehprogramm belegt, das fast nur aus Spiel-, Spaß- und Kochshows besteht. Sie, Herr Bolz, verkehren also vollkommen die Realität. Wir haben es mit einer fatalen Adultisierung der Kinder und Jugendlichen zu tun, die die Rolle der Erwachsenen übernehmen müssen.
Was macht so etwas mit Jugendlichen? Ich sah kürzlich mit meiner zwölfjährigen Nichte in der ARD eine Dokumentation über die „Generation Greta“. Da kamen alle bekannten Zitate vor: „Ich will, dass ihr in Panik geratet“, „Ihr habt mir meine Kindheit gestohlen“. Da hatte ich Furcht, das alles könnte sie überfordern. Aber meine Nichte war kämpferisch: „Ich werde ein schlimmes Leben haben, wenn wir nichts ändern.“ Sie zerbricht sich also den Kopf einer Erwachsenen.
Bolz: Ich wäre als junger Mensch sicher auch mitgelaufen bei Fridays for Future, denn auch ich wäre nicht immun gewesen gegen die politische und mediale Propaganda. Schon allein, weil ich selbst vier Kinder habe, wäre ich der Letzte, der Kritik an Kindern üben würde, schon gar nicht an Greta Thunberg. Bei Luisa Neubauer ist das anders, die halte ich für sehr raffiniert und karrieristisch. Der würde ich kein anderes Motiv unterstellen als das, populär und erfolgreich sein zu wollen. Dennoch: Ein Problem habe ich mit den erwachsenen Menschen um diese Jugendlichen herum. Also mit den Managern, die aus der Bewegung ein Geschäft machen. Deshalb schreibe ich ja auch von einer Angstindustrie. Es gibt Leute, die diese Bewegungen finanzieren, die sie ins rechte Licht rücken. Sie bringen die Jugendlichen in die Talkshows, wo sie wenig gehaltvolle Dinge sagen, da bleiben am Ende nur Pathos und Moral. Dazu haben Sie, Herr Lucke, eben die genialste Uminterpretation angeboten, die man finden kann: Nicht die Kinder seien infantil, sondern die Erwachsenen, und die Kinder brächten das Erwachsensein in die Welt zurück. Das ist brillant formuliert, aber leider unzutreffend.
Einer der wichtigsten und bekanntesten Slogans bei Fridays for Future lautet: Folge der Wissenschaft! Was ist daran infantil?
Bolz: Gar nichts – aber nur, wenn man darunter versteht: Höre der Wissenschaft zu! Das könnten Sie auf die Coronakrise übertragen. Ich höre auch auf die Virologen, und ich höre ebenso auf die Klimawissenschaftler. Das gehört ja zu meinem Beruf, ich bin in diese Welt hineinsozialisiert. Ich kann mich noch gut erinnern an meine Zeit als Professor. Es war immer die schwärzeste Stunde für meine Studenten, wenn ich ihnen sagen musste, dass die Wissenschaft nicht zur Wahrheit durchdringt. Das hat alle furchtbar verletzt, und ich konnte ihnen als Ersatz nur anbieten: Hypothesen und Szenarien. Das ist das, was Wissenschaft herstellen kann, und das ist schon eine ganze Menge. Gerade beim Klimawandel geht es um Komplexität. Komplexe, dynamische Systeme sind nicht vorhersehbar in ihrer Entwicklung. Das sagt Ihnen jeder Wissenschaftler. Wenn ich also an der Wissenschaftsgemeinde, die zum Klimawandel forscht, etwas als infantil auszusetzen habe, dann dies: dass sie bisweilen im Sinne des politischen Engagements unredlich wird. Sie meint, sie könne größere Gewissheit vermitteln über zukünftige Entwicklungen, als es die Wissenschaft prinzipiell kann. Es gibt eine Reihe von Gefälligkeitswissenschaftlern, die ihre Karriere fördern, indem sie Gutachten erstellen, die haargenau in vorgegebene politische Entscheidungsmuster passen.
Lucke: Nicht jede Hypothese ist jedoch gleichermaßen begründet. Es gibt Hypothesen von geringer und solche von immenser Wahrscheinlichkeit. Aber Sie nivellieren diesen Unterschied. Auf Seite 131 Ihres Buches heißt es: „Wissenschaftler und Politiker müssen einsehen, dass es kein Wissen über die Zukunft geben kann, sondern nur Meinungen.“ Indem Sie von bloßen Meinungen sprechen, relativieren Sie die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen und leugnen die Fähigkeit der Wissenschaft, begründete Hypothesen über die Zukunft aufzustellen.
Bolz: Da muss ich jetzt unterbrechen. Das ist einfach falsch. Genau dieser Satz sagt etwas vollkommen anderes aus, als Sie unterstellen. Er sagt: Wir können nichts über die Zukunft wissen, und deshalb ist alles, was man über die Zukunft sagt, bloße Meinung. Deshalb sollten sich die Wissenschaftler davor hüten, irgendwelche Gewissheiten über zukünftige Entwicklungen zu verbreiten, besonders bei einem komplexen System wie dem Klima.
Lucke: Darum geht es doch gar nicht. Seit Jahren wird von den renommiertesten Wissenschaftlern des IPCC, des International Panel of Climate Change, prognostiziert, dass wir es ohne gravierende politische und wirtschaftliche Änderungen mit einer enormen Erwärmung der Atmosphäre zu tun bekommen. Und fatalerweise haben die realen Ereignisse noch die schwärzesten Prognosen übertroffen. Das ist viel mehr als bloße Meinung. Ja, es mag „Gefälligkeitswissenschaftler“, um ihren Ausdruck zu verwenden, auch im Bereich der Ökologie geben. Aber es gibt natürlich zahllose Gefälligkeitswissenschaftler, die höchst nützlich sind für die viel mächtigeren ökonomischen Interessen am Fortbestand unseres fossilistischen Systems. Sie selbst, Herr Bolz, sind doch wunderbar geeignet als Avantgarde einer angeblich fortschrittlichen Wissenschaft, die der anderen Seite religiösen Eifer unterstellt, sich aber selbst nie der entscheidenden Frage stellt: Wie müsste eine aufgeklärte Moderne mit dem Problem der menschengemachten globalen Erwärmung umgehen?
Zur Person
Albrecht von Lucke Jahrgang 1967, ist Jurist, Politologe und Redakteur der politischen Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik. 2017 erschien von ihm im Knaur-Verlag das Buch Die schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken (240 S., 9,99 €)
Herr Bolz, was wäre denn aus Ihrer Sicht die Lösung für die realen Probleme?
Bolz: Sicher nicht Askese und apokalyptische Beschwörungen, sondern einzig und allein technische Innovationen, die technische Beherrschung der Welt. Ich plädiere, wenn Sie so wollen, für uralte Thesen, die Sie in der Aufklärung finden: Der Mensch soll die Natur beherrschen und sich in dieser Natur behaupten. Wir unterschätzen die Möglichkeiten der Technik, mit Problemen umzugehen. Insofern bin ich ein Technokrat.
Lucke: Ich beneide Sie um das tiefe „Systemvertrauen“, das Sie mit Niklas Luhmann als Ihrem zentralen Stichwortgeber propagieren. Es ist das reine Vertrauen auf eine Technik, die uns aus der Krise führen wird. Sie haben aber noch einen weiteren Stichwortgeber, nämlich Friedrich Nietzsche. Ausgerechnet dem ziehen Sie an entscheidender Stelle den zivilisationskritischen Stachel. Auf Seite 136 zitieren Sie ihn: „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit.“ Es gibt also für Nietzsche eine Hybris der menschlichen Naturunterwerfung, die in die Katastrophe führt. Sie aber plädieren dafür, Nietzsche just an diesem Punkt zu säkularisieren, denn die Moderne sei in der Lage, die Katastrophe abzuwenden. Das ist symptomatisch: Alles, was geeignet sein könnte, eine technik- und kapitalismuskritische Moderne zu fordern, wehren Sie ab, indem Sie sagen, wir kommen aus der Komplexität des bestehenden Systems nicht raus und müssen der Technik einfach blind vertrauen.
Auf welchem Weg sehen Sie denn die Menschheit, wenn sie sich von der Technokratie und dem Systemvertrauen so abwendet, wie Sie es beschreiben?
Bolz: Auf dem Weg des Gaia-Kults, der Verehrung der Mutter Erde. Die Kirche ist eng verflochten mit der grünen Bewegung. Die letzte Papst-Enzyklika liest sich wie ein zustimmender Kommentar zum Grünen-Parteiprogramm. Umgekehrt unterbreiten die Grünen ein religiöses Angebot, das verlockend ist. In einer Welt, die zunehmend atheistisch wird, aber auch ein unzerstörbares religiöses Bedürfnis in sich trägt, machen die Grünen ein Angebot, das perfekter ist als jedes andere religiöse Angebot. Sie versprechen im Gegensatz zum Christentum nicht das Heil, sondern malen das nahe Unheil an die Wand, um dann jedem Einzelnen zu sagen: Du kannst an der Rettung der Welt mitwirken! Du kannst Müll trennen, kein Fleisch essen, nicht mehr in den Urlaub fliegen, und damit kannst du das Unheil doch noch abwenden! Dieses Angebot ist deshalb so fantastisch, weil die Linke seit Jahrzehnten kein ideologisches Angebot mehr parat hat, das die Menschen fasziniert. Wenn man sich ansieht, wer Fridays for Future unterstützt, dann sind die medial sichtbaren Leute fast nie Repräsentanten der Arbeiterklasse. Es sind nicht die alten Wähler der SPD, sondern meist extrem gut situierte Leute, die sich die Luxus-Askese leisten können.
Fridays for Future fordert die Einführung einer CO2-Steuer, die dann vor allem der Pendler bezahlen müsste, der vor zehn Jahren mit seiner Lohnzurückhaltung schon mal „die Wirtschaft“ gerettet hat. Der denkt sich doch dann: Jetzt soll ich auch noch das Klima retten, indem ich für die Klapperkiste, die mich zur Arbeit bringt, weitere Steuern zahle. Trifft Norbert Bolz damit nicht einen wunden Punkt?
Lucke: Es handelt sich in der Tat um den Teil der jüngeren Generation, der stark aus einem bildungsbürgerlichen Spektrum stammt. Aber diese jungen Menschen sind nicht von religiöser Inbrunst getrieben. Sie wollen im Gegenteil, dass man die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse endlich ernst nimmt und die junge Generation nicht ihrer ökologischen Lebensgrundlage beraubt. Und wenn man sieht, dass in weiten Teilen der Welt schon heute ein normales Leben kaum mehr möglich ist, dann wirft das doch die Frage auf: Wie wollen und können wir in zwanzig oder dreißig Jahren noch leben? Auf Seite 42 schreiben Sie, Herr Bolz: „Das Schöne am Leben der Erwachsenen ist, dass man ihnen ihre Verantwortungslosigkeit und ihr unbegrenztes Anspruchsdenken nicht übel nimmt.“ Ein wahrer Satz.
Bolz (lacht): Mit kleiner Veränderung!
Lucke: In der Tat, ich habe ihn leicht geändert, bei Ihnen steht da nämlich: „Das Schöne am Leben der Kinder ist ...“ Unsere Gesellschaft lebt jedoch gerade davon, dass man uns, den Erwachsenen, nichts übel nimmt, auch nicht den permanenten Überkonsum zulasten des globalen Südens und der jüngeren Generationen. Fridays for Future sagt daher letztlich nur eines: Werdet dem gerecht, was ihr selbst rechtlich vereinbart habt! Setzt das Pariser Klima-Abkommen um!
Wie konnte eine Minderheit, die diese Bewegung ist, so mächtig werden und die herrschende Politik derart herausfordern?
Bolz: Es gibt einen Argumentationsstrang, der mir in meinem Buch fehlt. Das betrifft nicht Corona, denn mein Buch war vor dem Ausbruch der Pandemie fertig. Mir fehlt dort etwas, das mir erst durch die aktuelle Krise klar geworden ist, nämlich der „Great Reset“, von dem Klaus Schwab spricht, der Gründer des jährlich in Davos stattfindenden Weltwirtschaftsforums. Der „Great Reset“ geschieht derzeit im Zeichen von Corona und des Klimawandels. Dabei handelt es sich um eine weltweit geplante Revolution von oben. Alles, was heute politisch geschieht, ist nicht Teil einer Graswurzelbewegung. Es kommt nicht von unten, sondern von oben. Deshalb ist ja auch der Kurzschluss zwischen wohlhabenden Kindern oder Studenten und der Brüsseler Bürokratie so schlagend. Mir bereitet Sorge, dass große Teile der Bevölkerung entmündigt werden, weil sie keinen Zugang haben zu Organen des Protests gegen diese Bewegung. Es ist nicht so, dass Menschen aus der Betroffenheit ihrer Situation heraus von der Politik fordern: Nehmt den Klimawandel und andere Probleme ernst! Insofern fällt es mir schwer, das aus der Perspektive der Kinder zu sehen, die sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Ich glaube, die Agenda wird von oben vorgegeben.
Lucke: Sie bewegen sich damit sehr nah an jenen Fake-News-Produzenten, die eine links-grüne Manipulation durch das Establishment, den Deep State, herbeifantasieren. Dagegen muss man nur die heutige Ausgabe der Bild aufschlagen, da heißt es von Wirtschaftsminister Peter Altmaier: „Einkaufen ist ein patriotischer Akt.“ Das ist wohl eher keine Argumentation im Sinne von Fridays for Future, oder? „Deutschland ging es immer am besten, wenn wir unseren Glauben an eine bessere Zukunft durch Konsum ausgedrückt haben“, schreibt im gleichen Geiste der Bild-Chefredakteur. Die politisch-medialen Machtverhältnisse sind also ganz auf Ihrer Seite, Herr Bolz. Wenn wir aber die Interessen benachteiligter Gruppen und Generationen nicht stärker berücksichtigen, werden wir in der Tat eine gewaltige Polarisierung und wohl auch Radikalisierung erleben, davon bin ich leider überzeugt.
Düstere Aussichten. Für die abschließende Frage zitiere ich deshalb den Moralisten Erich Kästner: Wo bleibt das Positive?
Bolz: Solange Deutschland das Land ist, dem es am besten geht, solange wird es nicht zu einer Revolte kommen. Es gibt noch immer eine Klassengesellschaft mit vielen Abgehängten, also Leuten, die durchgefüttert und mit Sozialprogrammen am Leben gehalten werden. Meine Hoffnung geht aber in eine andere Richtung: dass wir uns auf Positionen besinnen, die mal sehr stark waren. Ich setze etwa in der SPD auf die Rückkehr der Vernunft in der Tradition von Helmut Schmidt bis Gerhard Schröder. Uns fehlt eine rationale Debatte in dieser Gesellschaft, eine sachliche Auseinandersetzung über die großen und kontroversen Themen, so wie wir sie hier gerade führen. Viele mussten zuletzt bitter bezahlen mit Karriereknicks, weil sie ihre Meinung geäußert haben. Das führt dazu, dass manche ihre abweichende Meinung lieber gar nicht mehr äußern.
Lucke: Erstens habe ich durchaus den Eindruck, dass nach wie vor sachliche Debatten möglich sind und auch stattfinden, nicht nur hier im Freitag. Und zweitens, da wiederhole ich mich gern, finde ich Ihr blindes Systemvertrauen hochproblematisch. Wie wir aus dieser systemischen Krise des Kapitalismus rauskommen, ohne immer wieder nur den Konsum anzukurbeln und damit die Krise immer weiter zu vertiefen, das ist die zentrale Herausforderung dieses Jahrhunderts. Und darauf sehe ich derzeit leider nirgends eine optimistisch stimmende Antwort.
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