Es rauscht in der Telefonleitung. Mehrmals. Bis Christian Bartlau nicht mehr zu hören ist. Offenbar muss nicht nur in Deutschland mancherorts Glück haben, wer über das Handy erreichbar sein will. 2015 zog Bartlau nach zwei Jahren als Sportredakteur bei n-tv.de nach Österreich. Von dort setzt er das Freitag-Gespräch per Skype fort. Bartlau muss neu ansetzen, aber er erzählt bestimmt gern noch einmal diese Geschichte, wie der Fußball ihn für sich gewann.
der Freitag: Herr Bartlau, warum sind Sie Fußballfan geworden?
Christian Bartlau: Es gibt wahrscheinlich diesen einen einschneidenden Moment in der Biografie eines jeden Fußballfans. Bei mir geschah es in der Saison 1993/94: Zweite Liga, erster Spieltag, Ostseestadion, Flutlichtspiel, Hansa Rostock gegen 1860 München. Wir kamen zu spät, weil mein Vater ewig nach einem Parkplatz suchen musste. Als wir endlich saßen, hatte Olaf Bodden schon das 1:0 für Hansa erzielt. In der Halbzeit schifften die Leute einfach an die Rückwand der Haupttribüne, und am Ende siegte Rostock mit 4:0. Wie kann man sich da nicht in den Fußball verlieben?
In Ihrem Buch „Ballverlust“ behaupten Sie, sich komplett vom Profifußball abgewandt zu haben. Wie soll man das glauben, wo Sie doch den Zauber des Stadionbesuchs von klein auf kennen?
Einem Freund hatte ich schon 2014 gesagt: Wenn die Nations League für die europäischen Nationalmannschaften kommt, dann bin ich raus, weil es bei diesem Wettbewerb wirklich nur darum geht, noch mehr Geld zu machen. Im September 2018 war es dann so weit. Die ersten Monate waren sehr ungewohnt. Meine Wochenenden wurden nicht mehr vom Fußball-Spielplan bestimmt, und ich habe etwas boykottiert, das so vielen Menschen wichtig ist. Aber ich habe durchgehalten. Als ich in diesem Frühjahr die Halbfinals der Champions League zwischen dem FC Liverpool und dem FC Barcelona nicht sehen wollte, da wusste ich: Jetzt bin ich über’n Berg.
Sie listen die „Kennzahlen des Wahnsinns“ auf: Paris St. Germain zahlte aberwitzige 222 Millionen Euro für den Spieler Neymar, einige Spitzenfußballer glänzen mehr durch Steuertricksereien als durch ihr Spiel auf dem Rasen, die Stadien für die WM 2022 in Katar werden unter menschenunwürdigen Bedingungen gebaut, die Fifa sieht sich seit Jahren mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Hat der Profifußball ein moralisches Problem?
Ja und nein. Zum einen reklamieren die großen Verbände für sich eine moralische Verantwortung. Der Weltverband Fifa sagt zum Beispiel, er existiere eigentlich nur, um die Schönheit des Spiels zu fördern. Dadurch, dass er sich als moralisch gut aufspielt, hat er auch ein moralisches Problem. Andererseits ist Moral keine Kategorie im Kapitalismus. Warum sollte das ausgerechnet im Fußball anders sein? Um das alles zu verstehen, hilft nur eine materialistische Analyse. Der marktkonforme Fußball entsteht nicht, weil einzelne Menschen sich gierig verhalten, sondern weil es einen Sachzwang gibt. Wer seinen Stadionnamen nicht verkauft, seine Brust nicht für Werbung hergibt, der hat keine Chance auf sportlichen Erfolg, weil er einen Wettbewerbsnachteil hat.
Wo liegt der Ursprung dieser Entwicklung?
Fußball ist seit Anbeginn auch ein Geschäft. Aber unser heutiger moderner Fußball entstand in den neunziger Jahren: Das Privatfernsehen spült Geld in die Kassen, Stadien werden neu gebaut oder saniert, die Zuschauerzahlen wachsen rasant. Fußball wird ein Massenphänomen. Noch in den Achtzigern war die Bundesliga als Klopperveranstaltung für den Pöbel verschrien, nun entproletarisierten sich die Kurven, das Publikum wurde bürgerlicher.
Zur Person
Christian Bartlau, 1985 in Rostock geboren, wuchs in der mecklenburgischen Einöde auf. Heute lebt und arbeitet er als freier Journalist in der Nähe von Wien. Im PapyRossa-Verlag erschien kürzlich sein Buch Ballverlust. Gegen den marktkonformen Fußball (223 Seiten, 14,90 €)
Uli Hoeneß, Präsident des FC Bayern München, brüllte bei der Jahreshauptversammlung 2007 die Kritiker der Kommerzialisierung an: „Was glaubt ihr eigentlich, wer euch alle finanziert? All die Leute in der VIP-Loge, denen wir das Geld aus der Tasche ziehen!“ Ist die Verbürgerlichung der Ränge also vor allem ein Segen für einkommensschwache Fans?
Auch wenn die billigsten Karten in der Bundesliga im europäischen Vergleich günstig sind: Fußball ist seit den Neunzigern für alle Besucher viel teurer geworden. Und für Unternehmen interessanter, weil nun auch kaufkräftige Schichten ins Stadion kamen. Das ganze Spektakel war plötzlich viel mehr wert, weil nicht mehr nur der Dreher Bernd K. aus Neuperlach im Münchener Olympiastadion sein Bier trank, sondern auch der Steuerberater Traugott F. auftauchte und sein Trikot bei gutem Essen spazieren tragen wollte. Die Kaufkraft im Stadion explodierte. Die Zuwendungen durch das Bezahlfernsehen ebenso, die heute eine der wichtigsten Einnahmequellen der Spitzenvereine sind.
Waren die TV-Gelder damals schon so wichtig?
Nein, in der Ära vor Pay-TV machten die Bundesligisten ihr Geld vor allem an der Stadionkasse. Heute kommen die Einnahmen nur zu 14 Prozent aus Tickets, ganze 33 Prozent aber aus den Medienrechten. Man muss sich das mal vorstellen: Die Premier League zahlte Anfang der Neunziger noch TV-Anstalten außerhalb Englands Geld, damit sie die Spiele zeigen. Heute sind diese TV-Rechte Milliarden wert.
In Ihrem Buch gibt es ein aufschlussreiches Zitat von Karl-Heinz Rummenigge, dem Vorstandsvorsitzenden des FC Bayern München. Nachdem sein Verein im Champions-League-Achtelfinale 2016 nur knapp gegen Juventus Turin weitergekommen war, jubelten alle über diese „Werbung für den Fußball“. Rummenigge dagegen sagte: „Irgendwann reicht es mir mit dem Schicksal.“
Das ist ein Satz, den man mal auf sich wirken lassen muss. Rummenigge empfand es als Majestätsbeleidigung, dass in der Runde der letzten 16 bereits zwei große Klubs aufeinandertreffen, weil das Los so entschieden hat. Er verlangte, der europäische Fußballverband solle über Setzlisten nachdenken. Dann würde nicht mehr die alte Fußballregel gelten: Möge der Bessere gewinnen. Es wäre vielmehr das Paradebeispiel für den marktkonformen Fußball, in dem die Großen im Vorbeigehen ein paar fette Prämien absahnen, bis im Viertelfinale die großen Duelle folgen, die sich besonders gut vermarkten lassen. Rummenigge und seine Freunde wollen eine Fußballaristokratie errichten, nach dem Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben.
Sie beschreiben das Schreckensszenario im Buch am Beispiel der US-Basketball-Liga NBA. Das führt zur Frage: Warum interessiert sich Hoeneß seit ein paar Jahren so auffallend stark für die Basketball-Abteilung seines Vereins?
Mitte Juli hat die Basketball-Euroleague in München getagt. Uli Hoeneß hat als Gastgeber das Grußwort gesprochen und gesagt, wie geehrt er sich fühle. Die Beschlüsse hatten es in sich: Für die Euroleague, den stärksten Wettbewerb in Europa, ist es nicht mehr möglich, sich national zu qualifizieren. Ein Team kann 50-mal Meister werden, es spielt niemals Euroleague, wenn man es dort nicht will. Die Bayern haben übrigens eine Wild Card. So ein System wollen Rummenigge, Hoeneß und Co. auch für den Fußball.
Gegen eine solche Zukunft im Fußball gibt es von aktiven Fans viel Protest, der wenig bewirkt. Warum wenden sich die Kritiker nicht alle genauso von diesem Fußball ab wie Sie?
Fifa, Uefa und die großen Ligen teilen sich ein Monopol auf das Bedürfnis, Spitzenfußball zu sehen. Es ist also eine klare Entscheidung für oder gegen den Verzicht, und die fällt den meisten aus guten Gründen schwer. Nein sagen kostet viel. Es ist eine hohe Hürde, die K.-o.-Phase der Champions League oder sogar eine WM überhaupt nicht zu gucken. So ist es in der Bundesliga auch. Bayern München ist sieben Mal hintereinander Deutscher Meister geworden, der Titelkampf ist extrem langweilig. Aber was wäre die Alternative? In den unteren Ligen ist der Fußball vielen nicht attraktiv genug.
Gibt es irgendwo anders den richtigen Fußball im falschen?
Es gibt Fans, die ihre Kurven besser machen, die Rassismus zurückdrängen Und es gibt Vereine wie Union Berlin, die einen Platz für Fanvertreter in den Gremien des Ligaverbandes DFL und generell einen Fokus auf die Fans im Stadion fordern. Das will ich nicht kleinreden. Aber selbst bei Union gelang es den Fans nicht, eine Immobilienfirma mit Sitz in Luxemburg als neuen Trikotsponsor zu verhindern, weil es unmöglich ist, der Vereinsführung zu begegnen, die sagt: „Ohne die Sponsorenmillionen steigen wir ab.“ Solange der Fußball wie ein Geschäft funktioniert und Spielball bleibt für Profitinteressen und Machtspielchen, wird er sich nicht verändern. Warum sollte er?
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