Hans im Unglück

Literatur Michael Kleeberg hat mit „Glücksritter“ eine Liebeserklärung an seinen Vater geschrieben
Ausgabe 41/2020
„Warum schreibst du nicht so wie ... Goethe?“
„Warum schreibst du nicht so wie ... Goethe?“

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Goethe, immer wieder Goethe. Seit Jahren musste sich der Schriftsteller Michael Kleeberg von seinem Vater auf diesen Säulenheiligen aller Studienräte ansprechen lassen. Ob er denn nicht zur Abwechslung mal etwas Heiteres, Leichtes schreiben wolle, das sich gut verkaufe, hatte der alte Herr seinem Sohn wiederholt empfohlen. So was wie die Italienische Reise. Ein nettes, unterhaltsames Buch. Italien komme doch immer gut an: „Damit hättest du Erfolg“, sagt er. Erfolg: ein Wort wie ein Fallbeil. Ganz besonders für Kleeberg, einen der Lieblinge des deutschen Feuilletons, vielfach preisgekrönt für Romane wie Karlmann und Das Amerikanische Hospital – und im November 2013 im Literaturhaus Berlin mit einem Kolloquium zum Gesamtwerk geehrt. Wenn er kein erfolgreicher Autor ist, dann gibt es wohl überhaupt keinen erfolgreichen Autor. Oder?

In Michael Kleebergs autobiografischem Essay Glücksritter. Recherche über meinen Vater ist dieser Verweis auf Goethe ein Running Gag. Er gipfelt darin, dass Kleeberg senior bei der hochkarätig besetzten Werksbegehung im Literaturhaus auftaucht und im Gespräch mit einem renommierten Germanisten die Italien-Goethe-Nummer auspackt. Ohne dass es vieler Worte bedarf, macht Kleeberg bei seiner Rekonstruktion dieses Dialogs spürbar, wie sich das Niemals-ankommen-Können im Kulturbetrieb für Menschen aus nicht allzu buchaffinen Elternhäusern anfühlt. Erst recht dann, wenn man nachher Anerkennung finden will als „richtiger Schriftsteller“, und zwar in der eigenen Familie ebenso wie in der Fachwelt.

Denn Erfolg, den definiert Kleebergs Vater anders als diejenigen, die sich materiell noch nie Sorgen machen mussten. Er verkaufte Versicherungen, sein im Buch sprachlich genau geschildertes Erwerbsleben verlief nicht linear im Sinne des kapitalistischen Versprechens, nach dem es jeder zu was bringen kann, wenn er sich nur genug anstrengt. Nein, dieser Vater gehört dem Milieu an, für das sich der abwertende Begriff des Kleinbürgertums etabliert hat und dem es um das Streben nach finanzieller Sicherheit geht, auch um den sozialen Aufstieg, der sich doch bitte schön auf dem Bankkonto bemerkbar machen möge.

Im Verhältnis der beiden Männer war dieser Konflikt um Geld jahrzehntelang so dominant, dass sich Kleeberg erst spät auf die Suche begab nach dem, was den Vater antrieb, was ihn aufhielt, was ihn zu dem werden ließ, der er war. 2014 starb der alte Mann an Krebs, und drei Jahre zuvor war etwas geschehen, das den Sohn erschütterte. Sein Vater war Opfer einer Online-Spam-Masche geworden. Ein Trickbetrüger hatte ihm ein Millionenvermögen garantiert, wenn er ihm mehrere Zehntausend Euro schicke. Den stets akkurat organisierten Mann, nach dessen Tod der Sohn im Keller die Steuerordner seit 1952 finden sollte, brachte diese Gaunerei im Alter von achtzig Jahren um den letzten Groschen.

Kleeberg kann sich dieses Verhalten anfangs nicht erklären, später stößt er auf das Hans-im-Glück-Syndrom, in dem Spieler nicht aufhören können, bevor alles verloren ist, weil sich erst dann ein Gefühl der Befreiung einstellt. Wo zuvor Unverständnis regierte, da beginnt sich der Sohn jetzt für den Vater zu interessieren. Kleeberg beschreibt den Weg behutsam und trotzig – Ersteres dank des zärtlichen Haderns mit dem Vater, Letzteres geprägt vom öffentlichen Debattenklima, das seit Jahren durch die sogenannten sozialen Medien vergiftet ist, weil dort fast jeder sich als dem anderen moralisch überlegen zeigen will.

Keine Fiktionsbehauptung

Da kommt Kleeberg wohl zugute, dass er kein Linker ist. Im Gegensatz zu Autoren wie Didier Eribon (von dem Kleeberg sich inspirieren ließ) oder Édouard Louis, die zuletzt ebenfalls über ihre Väter geschrieben haben, liegt zwischen Vater und Sohn Kleeberg in Fragen der Weltanschauung kein unüberwindbarer Graben. So mag es Michael Kleeberg leichter fallen, den eigenen Vater zu verstehen. Das reicht bis zu dessen noch im hohen Alter erhalten gebliebener Relativierung der Nazi-Verbrechen, die den Sohn regelmäßig auf die Palme gebracht hatte. Nun aber sieht er einen Menschen, der im Alter von zwölf Jahren in der Kinderlandverschickung von der Familie isoliert wurde und als Knirps ideologisch indoktriniert worden war. Wer will sich da mit dem Glück des Spätgeborenen eine moralische Hybris anmaßen?

So zeichnet Michael Kleeberg das Leben dieses Mannes mit Empathie nach, ohne sich hinter einer Fiktionsbehauptung zu verstecken – und ohne sein eigenes Scheitern zu verbergen: „Mein Vater bestand aus mehreren Personen, die ich bis heute nicht zu einer kohärenten Persönlichkeit verbinden kann.“ Das Buch ist also vor allem eine Entdeckungsreise in die Seelenlandschaft einer Familie. In gewisser Weise ist es aber auch ein Abenteuerroman, der sich trotz des „schweren“ Themas streckenweise so heiter liest, dass der Vater sich vielleicht sogar, könnte er es noch erleben, diesmal seine Italien-Goethe-Nummer verkneifen würde.

Info

Glücksritter. Recherche über meinen Vater Michael Kleeberg Galiani 2020, 240 S., 20 €

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