Mit zugenähten Augen

Fleisch Warum wir endlich aufhören müssen, das menschengemachte Tierleid zu verdrängen
Ausgabe 51/2020

Manchmal reicht die Umkehr der Perspektive, um klarer zu sehen. Eine oft strapazierte, aber immer erkenntnisreiche Annahme ist die von der Ankunft außerirdischer Kreaturen auf der Erde. Stellen wir uns vor, sie wären intelligenter als alle hier lebenden Wesen. Sie würden uns Menschen für alle möglichen Experimente nutzen, uns quälen, töten und essen. Verliehe allein der Umstand, dass wir dann in der schwächeren Position wären, den Stärkeren das Recht, mit uns tun, was sie wollen?

Umfragen ergeben immer wieder, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen gegen Tierquälerei ist. Kaum ein soziales Thema ist so wenig kontrovers. Und dennoch tut der Mensch mit den Tieren, was er will. Ohne menschengemachtes Tierleid gäbe es nicht so viel Fleisch. Der jährliche Fleischverzehr liegt trotz eines Trends zu Vegetarismus und Veganismus in Deutschland stabil bei etwa 60 Kilogramm pro Kopf. In den vergangenen Jahrzehnten ist es offenbar gelungen, den Zusammenhang zwischen Fleischgenuss und dem Töten der Tiere zu verschleiern.

Streicheln oder schreddern

In einer Mediengesellschaft, die Informationen über das Elend der Tierwelt sichtbar macht, ist das bemerkenswert. Wem der Zugang zu Massenmedien und Internet offensteht, kann nicht behaupten, vom herrschenden Falschen nichts zu wissen. Wer Fleisch kauft, macht sich zum Komplizen der Gewalt. Er bezahlt andere dafür, dass sie Rindern die Kehle durchschneiden und Ferkel ohne Betäubung kastrieren. Es muss also etwas anderes den Leidladen am Laufen halten als ein Defizit an Information. Vielleicht ist es vor allem diese Tatsache: Der Mensch ist ein Verdrängungstier.

Besonders grotesk äußerte sich das im Jahr 2013, als in mehreren europäischen Staaten als Rindfleisch deklarierte Lebensmittel gefunden wurden, die in Wahrheit aus Pferdefleisch bestanden. Eine Empörungswelle zog durch die Lande, die Leute spürten Ekel und Abscheu. Das mag neben der Konsumententäuschung auch daran gelegen haben, dass Pferdefleisch im kollektiven Gedächtnis negativ besetzt ist, seit nach dem Zweiten Weltkrieg in den zerbombten Straßen verendete Gaulkadaver lagen, die hungernde Menschen als Nahrungsquelle nutzen mussten. Ebenso leuchtet ein, dass Pferde als Haustiere gelten, die der sich für zivilisiert haltende Mensch streichelt und nicht schlachtet. Aber warum verhätscheln wir Hunde, Katzen und Pferde, derweil wir Hühner, Rinder und Schweine für unseren kulinarischen Genuss zu Tode quälen lassen?

In den Supermärkten wird Fleisch in rosa Stückchen angeboten, die mit dem Lebewesen, aus dessen Körper sie herausgetrennt wurden, keine Ähnlichkeit mehr haben. Menschen müssen das Tier schon lange nicht mehr selbst töten, um es essen zu können. Heute müssen sie es nicht einmal mehr als Tier erkennen. Tiere werden als Waren verkauft, so als wäre ihr Körper niemals mehr gewesen als für den menschlichen Konsum bestimmt, als wären sie nie denkende und fühlende Geschöpfe gewesen. Das sind sie meist auch nicht, denn genau darauf fußt die Massentierhaltung.

In den USA wurde vor Dekaden eine Pute mit einem Übergewichts-Gen gezüchtet, damit sie schneller wächst und fetter wird. So sparen die Unternehmen hohe Futterkosten, und die Konsumenten erhalten ihr fettreiches Fleisch zum günstigen Preis. Würde man eine solche Gen-Manipulation bei einem Menschenbaby vornehmen, dann würde es mit zwei Monaten 300 Kilogramm wiegen. Das Leben der Tiere besteht also nur aus Leid, und dieses Leid würde ohne die Hybris des Menschen nicht existieren. Dabei handelt es sich hier nicht um einen Einzelfall. In einem kapitalistischen System, das Nahrung nach Profit produziert und nicht nach Bedarf, sind solche Zustände erwünscht und normal.

Fleischproduzenten berechnen mit kalter Präzision, wie nah am Tod sie Tiere halten können, ohne sie durch die Haltungsbedingungen direkt zu töten. Beinahe alle wissen das, aber fast niemand will etwas davon wissen. Wer möchte schon in einer Gesellschaft leben, in der das Essen auf dem Teller niemals das Tageslicht gesehen und die letzten Stunden seines Lebens in Todesangst auf einem Transporter verbracht hat? Wer im Fernsehen die alltäglichen Bilder von geschredderten Küken und vor Schmerz schreienden Säuen sieht, schaltet sofort weg und stopft dem Kind rasch eine Scheibe Wurst mit Bärchengesicht in den Mund, ehe sich das soeben Gesehene ins Bewusstsein drängen und womöglich ein Trauma hervorrufen kann.

Das Recht des Schwächeren

Kinder wissen intuitiv, was Erwachsene verdrängen: Die meisten von uns verspeisten Tiere sind uns näher, als wir denken. Raben und Elefanten kennen Trauerrituale, Schweine und Elstern können sich im Spiegel erkennen, Pferde können Menschen mit Zeichen zu verstehen geben, ob sie eine Decke wollen oder nicht. Lange hatte man angenommen, Fische empfänden keine Schmerzen. Diese These ist inzwischen widerlegt. Sie empfinden nicht nur Schmerzen. Viele verwenden sogar Werkzeuge, schließen Freundschaften und kennen komplexe Kommunikationsformen. Es ist sogar belegt, dass Lachse in Fischfarmen an Depression erkranken können.

Die Schriftstellerin Hilal Sezgin beschreibt in ihrem Buch Artgerecht ist nur die Freiheit (2014), was sie in der Tierversuchs- und Schlachtindustrie beobachtet hat. In einem Schweinetransporter sah sie am Rückspiegel ein Plüschschwein hängen. Auf dem Parkplatz eines Labors, das Hunde, Mäuse und andere Tiere im Auftrag der Pharma- und Kosmetikindustrie malträtiert, entdeckte sie in den Autos etliche Plüschtiere auf den Armaturenbrettern: einen Marienkäfer, eine menschengroße Schildkröte, ein Schaf und sogar einen Plüschfisch. Wer hat schon einen Plüschfisch? Das ließ Sezgin besonders aufmerken, denn in dem Labor experimentierten die Menschen auch mit Fischen.

Sind die Gegenstände also ein Versuch, das Dilemma vor sich selbst umzudeuten? Schließlich würde der Lkw-Fahrer nicht sagen wollen, er verdiene sein Geld damit, Schweine in den Tod zu fahren. Er muss sich das legalisierte Unrecht zurechtbiegen – indem er sich und anderen gegenüber behauptet, er möge Schweine und arbeite mit ihnen. Sezgin kommt zu der verblüffend optimistischen Schlussfolgerung, dass die Menschen nicht ganz unberührt seien von dem, was sie den Tieren jeden Tag antun. In der Branche sei es üblich, jedem Experimentator ein Tier zuzuteilen, das nicht in die Versuche einbezogen wird und um das er sich wie um ein Heimtier kümmern müsse. Anders sei die Arbeit im Labor kaum auszuhalten.

Sezgin berichtet von einem Ständer, an dem Flaschen hängen wie Äste an einem Baum. In diese Flaschen seien weiße Laborratten hineingestopft worden. 90 Tage lang seien sie jeweils sechs Stunden am Tag reglos darin fixiert, um Zigarettenrauch zu inhalieren. Ein Tabakhersteller wolle wissen, wie eine Rattenlunge die Geschmacksrichtungen Honig oder Schokolade vertrage. Auch das ist kein Einzelfall. Sezgin weist nach, dass sich an einigen Universitäten akademische Grade erwerben lassen mit Experimenten, in denen neugeborenen Katzen die Augen zugenäht oder Meerschweinchen-Ohren mit Gewehrschüssen beschallt werden. Für diese Tiere gibt es fast nie ein Leben nach den Versuchen. Sie werden nicht erst krank gemacht und traumatisiert, um sie danach zu heilen und in eine Art Seniorenresidenz zu bringen.

Die Geschwindigkeit des medizinischen Fortschritts wäre ohne solche Tierversuche ebenso undenkbar wie die kosmetische und kulinarische Vielfalt. Eine Gesellschaft, die nur aus diesem Grund die systematische Folter leidfähiger Wesen gutheißt, kann gar nicht anders, als die Kunst der Verdrängung zu perfektionieren. Die Erde ist 4,6 Milliarden Jahre alt. Säugetiere gibt es seit 200 Millionen Jahren. Den Homo sapiens muss der Planet seit 300.000 Jahren aushalten. Das, was wir Zivilisation nennen, existiert seit 10.000 Jahren. Seit 200 Jahren erleben wir ein massives Bevölkerungswachstum und seit ein paar Jahrzehnten in Teilen der Welt ein scheinbares Leben ohne Zwänge der Natur. Lange sah es so aus, als könne der Mensch sich die Natur untertan machen. Noch nie war die Menschheit so mächtig wie heute, und noch nie hat sich der einzelne Mensch so machtlos gefühlt. Das bestärkt die Sehnsucht nach dem Verdrängen des Leids der anderen.

Auch der beliebteste Einwand gegen den Tierschutz ist Teil dieser Verdrängungskultur: In der Natur seien Fressen und Gefressenwerden ganz normal, und darum sei es auch immer normal, dass Menschen Fleisch essen. Doch aus dem, wie etwas immer schon war, lässt sich nicht ableiten, wie etwas sein sollte oder könnte. So schwer sich der Mensch ansonsten tut, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren, so leicht macht er es sich mit seiner Romantisierung der Natur und des Sterbens im Reich der nichtmenschlichen Tiere. Menschen haben ihre Artgenossen immer schon vergewaltigt, versklavt und ermordet. Das bedeutet nicht, dass es ein Recht darauf geben darf. Wer „natürlich“ leben will, dürfte übrigens auch nicht diese Zeitung lesen, und von seinem Zahnarzt dürfte er sich bei der nächsten Wurzelbehandlung keine Betäubung spritzen lassen.

Wo also läge die Lösung? Jedenfalls nicht darin, „Bio“ für die Masse zu kultivieren. Auch auf Bio-Bauernhöfen werden Hühnern die Schnäbel gekürzt und die Kälber ihren Müttern entzogen. Wer je den Schrei einer Kuhmutter nach ihrem Kalb gehört hat, vergisst die Bio-Illusion. Die Welt lässt sich ohnehin nicht nur mit Freilandhühnern ernähren. Dafür würden 50 Milliarden Hühner nicht reichen, es bräuchte mehr als die doppelte Menge.

Womöglich ist es in relativ wohlhabenden Gesellschaften ganz einfach nicht länger hinzunehmen, allein zum Komfort des Menschen andere Tiere zu misshandeln und zu töten. Wer dem zustimmt, für den bleibt als ethische Mindestanforderung nur eine fleischfreie Ernährungsweise. Andere Tiere essen dürften dann lediglich reine Fleischfresser – zu denen der Mensch nicht gehört.

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