Will haben

Miete Die Sehnsucht nach Eigentum beherrscht viele Bürger. Was wir brauchen, ist aber ein Recht auf Wohnen
Ausgabe 39/2019

Gibt es ein Recht auf Wohnen in der Innenstadt? Selbstverständlich nicht, so sagt es einem der gesunde Menschenverstand. Es gibt ja auch kein Recht auf Champagner, Kaviar oder Privatjet. Dämliche Frage, die sich schnell erledigt hat, könnte man meinen. Nehmen wir sie uns trotzdem noch einmal vor – zumal die Frage zuletzt aufkam, weil die Berliner Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher darauf drängt, in der Bundeshauptstadt für die kommenden fünf Jahre eine radikale Mietpreisobergrenze einzuführen.

Wer einwirft, diese nimmersatten Mieter würden jetzt auch noch ein Grundrecht auf günstigen Wohnraum in bester Lage einfordern, der hat im dichten Wald der Ideologie einen Schritt auf die Lichtung getan und nebenbei die wirklich relevante Frage ins Unterholz gekickt: Warum gibt es in der BRD, die sich in ihrer Verfassung als „sozialer Bundesstaat“ bezeichnet, kein gesetzlich verankertes Recht auf Wohnen?

Jeder zweite Mieter in Deutschland (also nicht nur in München, Berlin oder Hamburg) muss laut einer aktuellen Forsa-Umfrage mehr als 30 Prozent seines Haushaltsnettoeinkommens für die Miete aufbringen. In jedem fünften Mieterhaushalt liegt die Belastung sogar bei mehr als 40 Prozent. Dass fast drei Viertel der Befragten das nicht als problematisch empfinden, zeigt nur, wie selbstverständlich hohe Mieten schon erscheinen. Wer jedoch nicht auf eine Erbschaft zurückgreifen kann, dem reichen ein paar Missgeschicke, und er ist nur noch eine Mietvertragskündigung von der Obdachlosigkeit entfernt.

Die meisten Menschen sind verbunden durch das „Band der Not“, von dem Hegel schon im 19. Jahrhundert sprach. Nur die wenigen Reichen können sich aus diesem Band herauslösen, weil sie im Gegensatz zur Mehrheit zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse nicht auch die Bedürfnisse der anderen achten und befriedigen müssen. Eine solche Gemeinschaft heißt Gesellschaft. Das für deren Funktionieren wichtige, zugleich eigennützige und altruistische Handeln nennt man Solidarität.

Ende August erschien in der taz ein aufsehenerregender Kommentar der Reporterin Stefanie Unsleber zu besagtem Mietendeckel, den Lompscher in Berlin plant. Dort begründet die Autorin, warum sie den Gesetzentwurf als unsolidarisch empfindet. Sie sei vor Jahren aus der Berliner Innenstadt verjagt worden, schreibt sie. Mit ihrem Freund habe sie zusammenziehen wollen, im Zentrum aber keine Bleibe gefunden. Und dann sei das Paar in Köpenick gelandet – einem Bezirk im Südosten, in dem das von Kosmopoliten häufig mit Verachtung bedachte Stadtrandmilieu lebt.

Wenn eine Berliner Altbauwohnung nur noch maximal sechs Euro pro Quadratmeter kosten dürfe, argumentiert die taz-Autorin, dann würden nur die Mieter profitieren, die schon eine Innenstadtwohnung haben. Am Angebot würde der Mietendeckel demnach nichts ändern: „Er würde ein Symptom bekämpfen, denn die Mieten sind nur deshalb so extrem angestiegen, weil der Wohnraum in Berlin bei Weitem nicht ausreicht.“ Was es vor allem brauche, seien neue Sozialwohnungen, nicht aber politische Marktpreisregulierungen.

Leider liefert Unsleber keine Belege für diese Behauptung, die ja zunächst plausibel klingt. Der Stadtsoziologe Andrej Holm, der bis 2017 als Staatssekretär für Bauen und Wohnen in Berlin tätig war, hat sich dazu auf Twitter so geäußert: „Staatliche Mietpreisbindungen und Wohnungsbau schließen sich nicht aus. In 73 Jahren mit staatlichem Mietpreisrecht wurden 20.000 Wohnungen pro Jahr gebaut – in den 22 Jahren ohne Mietpreisbindung waren es nur 7.000 Wohnungen pro Jahr.“

Papa schenkt uns das

Nun gehört die taz-Kommentatorin wohl keinem Eigentümerverband an. Dennoch schreibt sie in deren Namen. Sie möchte irgendwann Wohnungseigentümerin sein und fürchtet um Einnahmen, falls der Mietendeckel zum Trend wird: „Es gehört in vielen Ländern dieser Welt, die ärmer sind als Deutschland, zum Erwachsenwerden dazu, in Eigentum zu investieren, sobald man einen halbwegs stabilen Job hat. Auch in anderen Gesellschaftsschichten, wie zum Beispiel im Arbeitermilieu, ist das so.“

So liest sich dieser Text wie die pointen- und ironiefreie Variante eines Liedes von Christiane Rösinger aus dem Jahr 2017. In Eigentumswohnung singt sie über junge, arrivierte Großstadt-Wohnungseigentümer mit taz-Abo: „Wir wollen ja keinen vertreiben, / aber wir müssen doch irgendwo bleiben. / In anderen Ländern wohnt man auch nicht zur Miete, / da bist du ohne Eigentum die Niete. / Wir leben ja eigentlich selber prekär, / wenn das mit der Wohnung nicht wär’. / Wir müssen auch an das Alter denken, / die Eltern wollten’s uns halt unbedingt schenken.“

Wer wissen will, woher diese Sehnsucht nach Eigentum rührt, der landet bei dem derzeit wieder beliebten Begriff des Bürgertums. Das Streben nach bürgerlichen Werten ist eng mit der Idee von Konkurrenz und Wettbewerb verzahnt. Ein beinahe in Vergessenheit geratener Intellektueller hat dazu 1972 ein Buch veröffentlicht, dessen Lektüre auch heute noch lohnt.

In Sozialpsychologie des Kapitalismus erklärt Peter Brückner, warum Menschen sich dem „stummen Zwang der Ökonomie“ unterwerfen, den schon Karl Marx ausgemacht hat, weil die Arbeiterklasse die kapitalistische Produktionsweise als „Naturgesetze“ akzeptiert habe. Kinder, sagt Brückner, seien von Geburt an einerseits auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet. Sie träfen andererseits von klein auf mit einer Gesellschaftsordnung zusammen, in der geltende Besitz- und Eigentumsverhältnisse die sinnlich erfahrbare Welt prägten.

Kategorien wie „meins“ und „deins“ erschließen sich den Heranwachsenden laut Brückner über Sprachlaute und Formen von Lohn und Strafe „als ein transzendentales Etwas höchster Bedeutsamkeit“. Weil ein Objekt erst bei Besitz als glückbringend empfunden werde, trete Leid in das kindliche Erleben, das von den Eltern durch emotionale Druckausübung kontrolliert werde.

Der Literaturwissenschaftler Franco Moretti hat diese Entwicklung zum leistungsorientierten Bürgertum in seinem 2014 auf Deutsch erschienenen Buch Der Bourgeois vor dem Hintergrund der Literaturgeschichte analysiert. Das Bürgertum habe im 18. Jahrhundert die Monarchie besiegt. Nach dem Ende des Gottesgnadentums sei der Kapitalismus eingesprungen, um eine für alle Menschen gerecht wirkende Ordnung anzubieten. Das Bürgertum verfügte damals kaum über kulturelles Gewicht, weshalb es das christlich Feudale aus der Mottenkiste kramte und zu einem sinnstiftenden Symbolvorrat verdichtete.

Wer fleißig sei, so der aus der protestantischen Arbeitsethik stammende Mythos, könne aus eigener Kraft alles erreichen. Vor allem Flaubert und Balzac stellten demnach ihre Figuren und Atmosphären als den Zwängen der Ereignisse entsprossene Subjekte und Gegebenheiten dar. Und das, so Moretti, sollte „die Gegenwart so gründlich in der Vergangenheit verankern, dass jede Alternative zu ihr undenkbar wird“.

Auf Kosten der Mehrheit

In Balzacs Roman Die Kleinbürger gibt es die Figur des Cérizet – ein „kleiner Vermieter“, der sich als tüchtiger Bürger präsentiert, tatsächlich aber ein Blender ist. Er mietet ein großbürgerliches Haus und vermietet es zu überteuertem Preis weiter.

Cérizet hat die Religion als rhetorisches Spielmaterial entdeckt, um zu verbergen, dass er durch „Wuchergeschäft“ bei den Mieten nur ein Ziel verfolgt: „Er würde dann endlich ein Pariser Bourgeois werden können, ein Kapitalist, der in der Lage war, gute Geschäfte zu machen.“ Das Sicherheitsbedürfnis treibt Cérizet dazu, sein Kapital auf Kosten der Armen zu mehren. Der Kleinbürger handelt im Sinne der Großbürger, weil er selbst einer sein möchte.

So funktioniert auch die aktuelle Debatte um die Vergesellschaftung von Immobilienfirmen und den Mietendeckel. Politische Schritte, die im Interesse der überwältigenden Mehrheit lägen, werden von Kleinbürgern abgelehnt, die um ihre Chance fürchten, Großbürger zu werden. Vielleicht wäre es jetzt gerade deshalb an der Zeit, im dichten Wald der Ideologie einen Schritt zurückzutreten und grundlegende Fragen aus dem Unterholz zu ziehen.

Wer sich als Schutzmacht jener „Kleinvermieter“ sieht, die Mieteinnahmen als Altersvorsorge nutzen, der könnte fragen, warum der Staat nicht jedem ein Leben ohne Altersarmut garantiert. Wem Wohneigentum als bürgerlicher Wert erscheint, der könnte sogar fragen, warum der Staat nicht möglichst allen ein Darlehen oder zumindest einen günstigen Kredit zum Kauf von Wohnraum anbietet, anstatt viele lebenslang Miete zahlen und damit einen erheblichen Teil ihres Einkommen den Immobilienfirmen schenken zu lassen, als gäbe es ein Recht auf beliebig hohe Mieten.

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