Von Erziehern, Wohltätern und Wort-Zombies

Unwort 2015 Erinnern wir uns zur Feier des Unwort-Titels: Woher der „Gutmensch“ kam, wes Geistes Kind er war und was aus ihm geworden ist. Ein Abgesang

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Die Frage lautet nicht ob, sondern wie wir es "schaffen"
Die Frage lautet nicht ob, sondern wie wir es "schaffen"

Bild: TOBIAS SCHWARZ/AFP/Getty Images

Mein Unwort 2015 wäre ja eher „Willkommenskultur“… Nicht, weil ich das, was damit gemeint sein mag, nicht auch letztendlich befürwortete: Dass nämlich in der Genfer Flüchtlingskonvention keine Fußnote zu finden ist, welche besagt, wenn es mal alles zu kompliziert würde, könne man das Menschenrecht auf Asyl auch ignorieren - insofern die Frage nicht lautet ob, sondern nur wie wir es "schaffen", uns daran zu halten - im Idealfall eben mit einer gewissen Würde, die wir ja für uns gerne in Anspruch nehmen, oder auch: Mit genau der fundamentalen kulturellen Überlegenheit, die wir uns sonst so anmaßen…

Nein: „Willkommenskultur“ wäre meine Wahl, weil dieses Wortkonstrukt genau dem entspricht, was ich mir unter einem Un-Wort vorstelle: Ein Wort-Zombie. Ein Nicht-Begriff. Ein besonders hohl tönendes Stück Alibi-Sprech, eine leere Parole. Ein Markenname ohne Sinn und Verstand, via Großkampagne verbreitet und millionenfach nachgeplappert, bis er von einem Begriff aus der wirklichen Welt (einem Wort, das für einen bestimmten Inhalt steht) in der Praxis nicht mehr unterschieden wird… Weitere populäre Begriffssimulationen aus dem letzten Jahr, bei denen ich diese Anforderungen erfüllt sehe, sind die Bullshit-Wörter „asylkritisch“, „islamkritisch“ und „Leitkultur“, aber auch „unsere Werte“, die bereits so strapaziert wurden, dass sie jetzt schon in Frage stehen, noch bevor wir uns darauf einigen konnten, was damit genau gemeint sein soll …

Das kommt überhaupt davon, wenn man alles den PR-Profis überlässt und politische Diskursvorlagen am Ende so klingen, als seien sie von Marketing-Experten ausgeheckt worden, denen Inhalte nichts sind als Ideengeber für eine gute Verpackung: Formvollendete Sprechblasen, deren Aussage erst noch zu definieren wäre. Leerformeln, die uns befähigen, mitzuquatschen, ohne Ahnung oder wenigstens vorher zugehört zu haben, unserem heftigen oder vagen Gefühl folgend, an persönlichen Sympathien entlang, irgendeinem Rudel hinterher - da bildet sich das Vokabular ganz von alleine heraus, anhand dessen sich die gegnerischen wie eigenen Rudel-Angehörigen erkennen lassen… So funktioniert heute Meinungsbildung. Mit Aufklärung, konstruktivem Diskurs, Verständigung (eigentlich ebenfalls ein Potential, das sich mit Sprache erschließen lässt) hat all das nichts zu tun…

„Willkommenskultur“ war übrigens sogar unter den Vorschlägen, die die interessierte Öffentlichkeit zur Unwort-Wahl einbringen konnte. Mehr noch: es war das Wort, das nach „Lärmpause“ am häufigsten gewünscht wurde. Allein: Beim Unwort des Jahres geht es mehr um politische als sprachästhetische Anliegen. So räumt die Jury ja offen ein, „Kriterien“ zu folgen, „denen nicht alle Vorschläge gerecht werden“. Die Aktion Unwort des Jahres kürt nicht in erster Linie bizarre Wort-Zombies, sondern populäre Begriffe, deren künftige Ächtung sie damit empfehlen möchte: Letztes Jahr war es „Lügenpresse“. Es geht auch dieses Mal wieder um politische Tendenzen und die Stimmung im Land…

Und so ist es nun halt „Gutmensch“ geworden. Was ich persönlich ein bisschen wohlfeil finde, was aber vor allem in seiner volkspädagogisch ambitionierten Offensichtlichkeit auf etwas verweist, für das der Begriff eigentlich mal erfunden wurde – sodass sich in diesem Kontext sogar noch mal kurz eine ironische Dimension eröffnet, die dem Wort längst abhanden gekommen war…

Der Gutmensch war ja eigentlich schon erledigt. Er stand bereits 2011 als zweitplatziertes Unwort auf dem Treppchen und war damals im Alltag angekommen als plattes Schimpfwort mit eingebautem Bullshit-Alarm, das in immer größerer Vorhersehbarkeit und Lautstärke von rechts kam… Leute, die sich für eine „Aktion Unwort des Jahres“ interessieren, müssen 2016 nicht mehr auf die Fragwürdigkeit dieses Wortes und seiner Verwendung hingewiesen werden…

Aber wo es nun mal so gekommen ist, bliebe doch noch einmal zu würdigen und zu erinnern, künftigen Generationen zur Mahnung, dass dieser vormals ironisch, inzwischen giftig schillernde Begriff nicht aus dem Nichts kam und nicht von ungefähr dem übelriechenden Verfall bestimmt war.

Seiner höchsteigenen Wikipedia-Seite zufolge kam der Gutmensch als Spott-Wort in den späten 1980ern im Umfeld 68er-krikitscher Satiriker auf - und ja, ich erinnere mich: Damals war es brauchbar, denn es bezeichnete einen scheinbar neuen und bisher nicht benannten, aber weit verbreiteten Typus, dem man im Alltag begegnen konnte, und der zunehmend deutlichen Einfluss in Kultur und auch Politik nahm:

Es handelte sich um eine wenig angenehme bis höchst anstrengende Melange von Attitüde und Ästhetik, Selbstvermarktung und Besserwisserei unter Angabe altruistischer Motive. Gemeint waren damit sich selber so nennende „Alternative“, die zwar mit soweit guten Ideen hausieren gingen (solidarische Vielfalt, globale Gerechtigkeit, saubere Umwelt: alles zu befürworten) sich damit aber hauptsächlich selbst höchstwichtig in Szene setzten. Die unter dem Argument, der Weltrettung persönlich zu dienen, übergriffig, belehrend und in imperativem Eifer im Namen anderer zu enormer Rücksichtslosigkeit imstande waren… Sodass man sich in ihrer Gegenwart entweder ständig zur Verteidigung genötigt sah oder sich in stellvertretender Scham winden musste.

Die Masche ist freilich älter als ihre Vertreter in den bundesrepublikanischen 1980ern. Vermutlich übernahmen sie nur die Attitüden, die traditionell von der Kirche, aber auch im Charity-Gedanken der früheren „besseren Gesellschaft“ sowie im Kolonialwesen kultiviert wurden: Wohltätigkeit, die den Erhalt und Ausbau der eigenen Interessen mit edlen Motiven verbrämt und ein erzieherischer Impetus, der sich selbst fraglos als höchste Instanz begreift.

Erziehung argumentiert gerne mit moralischen Querverweisen und Übertragungen: „Iss deinen Teller leer - in Indien hungern die Kinder.“ Während die Erzieherstimme so spricht, voller Überzeugung, die Frage nach globaler Gerechtigkeit, sozialer Verantwortung, Empathie und Respekt vor Essen auf eine kindgerechte Formel gebracht zu haben, wird das mitdenkende Kind bald erkennen, dass es sich hier um eine perfide Manipulation handelt, eine pseudo-logische Vermengung von Ansprüchen und Fakten, die eben nicht der Entschlüsselung der Welt dient, sondern schlicht der Durchsetzung des erzieherischen Willens… Die Erzieherperson sonnt sich derweil in der Vorstellung, pädagogisch richtig und im Sinne einer besseren Zukunft zu handeln. Gleichzeitig muss sie sich selbst nicht dabei erleben, die kindliche Frage „warum?“ mit einem autoritären „weil ich es will!“ zu kontern, was ehrlicher wäre, aber am altruistischen Image kratzen würde.

Vereinfacht dargestellt war etwa dies der Trip der Leute, die sich vor 30 Jahren den Titel Gutmenschen verdienten: Von edelster Absicht, emotional betroffen, alles verstehend, wohlwollend war die poröse Fassade – aggressiv, selbstherrlich, rechthaberisch und rücksichtslos ging es dahinter zu und im Konfliktfall zur Sache ... Und irgendwie gelang ihnen sogar der Dreh, sich selber als „Alternative“ zu sehen, als Gegenmodell zu Ex-Nazis und Spießern, gegen die man offiziell rebellierte, solange man an Ausdrucksformen für den eigenen autoritären Charakter bastelte. Dabei half zum Beispiel, den Handschlag und die Haarschnitte abzuschaffen, Distanzbedürfnis verklemmt und Höflichkeit verlogen zu finden, und mit Batik-Tüchern zu manifestieren, dass man Friseurterror, Drill und Eiche rustikal der eigenen horriblen Kindheit hinter sich gelassen hatte … Aber wie wir heute wissen, waren das nur neue Gewänder für die alten Spießerreflexe, die sich spätestens mit dem Aussterben der Eiche-rustikal- Generation auch in lang behaarten Schädeln entfalteten, während gleichzeitig die eigene Verwahrlosung vermarktet wurde und der Weg für neoliberale Ausbeutungsmuster geebnet.

Die Rechthaberei und der sich „fortschrittlich“ findende Mangel an Manieren sind das eine. Das andere, was die Gutmenschen nach 1980er-Prägung auszeichnete, war eine oft sehr durchsichtige, schon ärgerlich schlecht gemachte Show, die auf Verkitschung und Verkürzung beruhte, sich aus Verblendung und Wichtigkeitswahn speiste und sich einen Dreck darum scherte, ob sie irgendwen überzeugte, solange sie nur zur eigenen Bestätigung und Inszenierung als Wohltäter taugte.

Wo es in „alternativen“ Zusammenhängen darum ging, auf eine „wichtige Sache“ hinzuweisen, lief alles noch so schlecht Gemachte unter der Flagge des gut Gemeinten mühelos zu großer Form auf, um sich „für die Sache“ beklatschen zu lassen. Das führte besonders da, wo Kulturschaffende und Politik zusammenkamen, zu stetiger Grenzwertigkeit in Wort, Bild und Ton und allen sonstigen Bereichen, ja: zu totaler Schamlosigkeit im Namen der guten Absicht, der nun alles andere untergeordnet werden konnte und musste - auch persönliche Skrupel, inhaltliche Logik, ästhetische Bedenken sowieso…

Dochdoch, sie haben es durchaus selber mit vergeigt, die werten Damen und Herren “Alternativen“, dass man sie irgendwann als Karikaturen wahrnahm. Dass kritische Geister, denen all das weltbesserische Gewese zu distanzlos war, die sich nicht als Geschwister im Geiste einfach vereinnahmen lassen wollten, ihrem eigenen Gespür für ein „Zuviel des Guten“ folgten und das Phänomen mit dem Begriff Gutmensch auf ironischen Abstand brachten…

Wenn die verantwortlichen Satiriker der späten 1980er geahnt hätten, welche Entwicklung ihr Spottwort vor sich hatte – vielleicht hätten sie sich die Sache noch einmal überlegt und ein anderes Wort mit weniger Missverständnis-Potential geprägt – denn mal ehrlich: ein Geniestreich war Gutmensch nicht (Naheliegend und viel präziser wäre z.B. Bessermensch gewesen – aber die Vorlage dafür kam erst ein paar Jahre später in Gestalt des Besserwessi aus ostdeutscher Wortwerkstatt - wenn die DDR eins in besonders hoher Qualität produziert hat, dann Sprachwitz) … Es wäre nicht schade um das Wort gewesen, wenn es in den 90ern wieder vergessen worden wäre.

Dass es sich hielt, hat aber auch seinen Grund: So vage und missverständlich die Vokabel ist, bringt sie, hämisch betont, ein ganz bestimmtes Gefühl auf den Punkt, das ausgerechnet Otto Schily einmal so formuliert hat: „Ein guter Mensch kann uns fürchterlich auf die Nerven gehen“.

Der Gebrauchswert dieses Satzes besteht darin, dass er völlig offen lässt, ob es das tatsächliche Gut-sein oder aber die dahinter vermutete Heuchelei ist, die uns nervt – genervt sind wir allemal, wenn wir auf unser eigenes Defizit an Güte verwiesen werden, weil ein anderes offenbar mehr davon hat oder zu haben vorgibt. Dieser Ärger ist im Begriff Gutmensch geronnen und ist auch die klangliche Qualität, die sich bis heute in seiner Verwendung gehalten hat.

Spätestens in seinem dritten Jahrzehnt wurde Gutmensch endgültig als Schimpfwort von Leuten übernommen, denen Ironie eigentlich zu kompliziert ist, die aber neuerdings gerne behaupten, dass es sich bei besonders entgleisten Beleidigungen und abstrusen Behauptungen um „Satire“ handele, weil sie mal gehört haben, die dürfe alles…

Ungefähr seit Ende der Nuller Jahre meint Gutmensch Leute mit halbwegs liberalen Ansichten, irgendwo links von rechtsaußen, Leute, deren Gerechtigkeitsempfinden sich nicht nur auf die eigene Existenz bezieht. Im letzten Jahr wurde dem Gutmenschen noch, um ganz sicher zu gehen, die Beschreibung naiv vorangestellt, und gerne auf Personen angewendet, die angesichts der sogenannten „Flüchtlingskrise“ an Bahnhöfen und in Erstaufnahme-Einrichtungen für den Erhalt unserer Zivilgesellschaft gekämpft haben. Das mag aus einer finster-fatalistischen Perspektive naiv scheinen, aber auch kein bisschen naiver als der Wunsch, einen Zaun um unsere Landesgrenzen zu ziehen und einfach keinen mehr rein zu lassen…

Vor allem aber haben die Studentinnen, die letztes Jahr konkret Menschen halfen, anstatt Scheine zu sammeln, absolut nichts gemeinsam mit den ursprünglich gemeinten „Gutmenschen“, den schamlosen Wichtigtuern der späten 1980er: Die haben ihre persönliche Karriere nie anbrennen lassen und sind heute vielleicht Chef einer Werbeagentur, die sich Wort-Zombies wie „Willkommenskultur“ ausdenkt...

Ein Vorschlag: Nehmen wir den Gutmenschen aus dem Programm, wie die Aktion Unwort des Jahres es wünscht, und führen dafür den etwas aus der Mode gekommenen Wohltäter wieder ein: Ein Wort, das die kritische Mischung aus guter Absicht und imperativer Täterschaft sehr schön benennt, seines ironischen Gehaltes noch nicht verlustig wurde und recht präzise auf die angewendet werden kann, die gemeint sind.

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Geschrieben von

Charlie Schulze

"Bei meinen Feinden, zuweilen, finde ich Zuflucht vor meinen Genossen." (Peter Rühmkorf)

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