Peking speckt ab

Moloch Megasmog, Superstaus, Sandstürme – Peking leidet. Braucht China eine neue Hauptstadt? Gerüchte über einen Umzug wärmen im März 2014 diese jahrzehntealte Frage wieder auf

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Die Chang'an-Allee kurz vorm Kollaps

Foto: Wikimedia Commons

Patient Peking

„Zu fett“ – das befindet Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping, als er im Februar 2014 Peking inspiziert. Mit über 20 Millionen Menschen und fünf Millionen Kraftfahrzeugen platzt die Hauptstadt aus allen Nähten. Als Herberge der Zentralregierung ist sie nicht nur das offizielle „Politik- und Kulturzentrum“ Chinas, sondern heute auch Mittelpunkt für die Bereiche Wirtschaft und Finanzen, Medien, Verkehr, Bildung und Forschung sowie Militär.

Alles strudelt nach Peking, versucht dort sein Glück. Verdauen kann es das aber schon lange nicht mehr. Für Stadtplaner wie Fu Chonglan ist Peking zur „Problemstadt“ geworden, der wegen Überfettung Schlaganfall droht.

Betrachtet man die gegenwärtigen Bevölkerungs-, Verkehrs- und Umweltprobleme, dann muss sich Pekings Stadtentwicklungsmodell ändern. Das steht fest.

Diäthelfer Baoding?

Dabei könnte Baoding helfen. Ende März 2014 weiß die Wirtschaftszeitung Caijing von Gerüchten, dass Teile des staatlichen Regierungsapparats und Bildungseinrichtungen nach Baoding verlegt werden sollen, wodurch es zum „Vize-Politikzentrum“ Chinas würde. Baoding liegt 140 Kilometer südlich von Peking in der Provinz Hebei.* Bis 1968 war es Provinzhauptstadt und trauert seitdem dem Glanz alter Zeiten nach. Experten zeigen sich überrascht, als sie die Wochenzeitung Southern Weekly mit den Umzugsgerüchten konfrontiert, wie Regierungsberater Liu Xiuchen.

Baoding zum Vize-Politikzentrum der Hauptstadt zu machen, ist absolut unmöglich.

Auch Zhou Hongchun, Leiter einer Forschungsstelle für Gesellschaftsentwicklung beim Staatsrat, will davon noch nie etwas gehört haben. Für Baoding spricht nur der Ortsvorteil, jedoch fehlt jeglicher Symbolwert einer Hauptstadt, urteilt der Soziologe Yu Hai von der Shanghaier Fudan-Universität.

Als Urheber der Gerüchte vermuten viele der befragten Wissenschaftler Immobilienmakler in Baoding. Falls es so ist, dann geht deren Rechnung auf: Im Zuge der Spekulationen schießen dort die Immobilienpreise in die Höhe.

Alle Jahre wieder

Ebenso wie Vertreter der Provinz Hebei, die von einem bloßen Gedankenspiel sprechen, dementiert Baodings Bürgermeister Ma Yufeng die Umzugspläne.

Das ist nur ein Gerücht.

Dieses schmiegt sich an einen Diskurs, der die chinesische Öffentlichkeit seit 30 Jahren immer wieder mal aufscheucht. Meist dann, wenn Superstaus und Megasmogs Peking lahmlegen, oder Sandstürme an der Hauptstadt vorbeischrammen. Letzteres trieb den damaligen Premier Zhu Rongji zu diesem geschichtsträchtigen Satz aus dem Jahr 2000.

Wenn wir das Sand-Problem nicht in den Griff kriegen, dann besteht für Peking die Gefahr, dass die Hauptstadt verlegt wird.

Sonst findet dieses Thema außer in den Medien nur in den Niederungen chinesischer Politik und Wissenschaft statt. Zu den lautstärksten Befürworten zählt der Wirtschaftsprofessor Hu Xingdou von der Technischen Universität Peking. Im Sandsturmjahr 2006, als auch 479 Abgeordnete des „Nationalen Volkskongresses“ gemeinsam einen entsprechenden Antrag stellen, ruft er zur Verlegung der politischen Hauptstadt nach Zentral- oder Südchina auf. Dort sei man vor Naturkatastrophen sicher und mit dem übrigen China infrastrukturell besser verzahnt als im nordchinesischen Peking.

Raus mit den Schmuddelkindern

Für die meisten Experten geht das allerdings viel zu weit und ist unseriös. Sie lehnen sowohl die Komplettverlegung in andere Regionen Chinas als auch das aktuelle Spekulationsobjekt „Vize-Zentrum“ ab. Eine solche Trennung löse nicht die Strukturprobleme Pekings, erschwere nur die Arbeit der Regierungsstellen und verursache gewaltige Kosten, prognostiziert der Verwaltungswissenschaftler Yun Jie von der renommierten Chinesischen Akademie für Sozial- wissenschaften. Für ihn liegt die Lösung zur Entschlackung Pekings in Peking und seiner näheren Umgebung selbst, da ist sich auch sein Shanghaier Kollege Yu Hai sicher.

Wenn es in der Zentralregierung Pläne für ein Vize-Zentrum gibt, dann kann man sie nur im heutigen Verwaltungsbezirk Peking umsetzen – zwar nicht innerhalb der ersten drei Ringstraßen, aber zwingend innerhalb „Pekings“.**

Daran arbeiten Pekings Stadtplaner mit Hochdruck. Um die Hauptstadt zu entlasten, will man zunächst „für die Entwicklung ungeeignete“ Branchen auslagern. Darunter fallen als Flächenfresser und Umweltsünder besonders die verbrauchsintensiven Billigindustrien, erklärt Anfang 2014 Pekings erster stellvertretender Bürgermeister Li Shixiang. Aber auch über den Abzug von Billigmärkten, Druckereien, Transportbetrieben, (Lehr)Krankenhäusern und weiteren Einrichtungen mit hohem Verkehrsaufkommen denke man nach.***

Das Fünkchen Wahrheit

Wohin das riesige 301-Krankenhaus der Volksbefreiungsarmee abwandern wird, weiß die Wochenzeitschrift Vista – nach Zhuozhou. Woher sie das weiß? Von der mit Peking verhandelnden Leiterin des Planungsamtes der Stadt Baoding. Zhuozhou gehört zu Baoding.

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* Der Integrationsprozess zwischen den Regionen Peking, Tianjin und Hebei zählt zu Chinas wichtigsten Infrastrukturvorhaben. Wegen seiner günstigen Lage könnte Baoding hier eine Schlüsselstellung zukommen.

** Sechs große Ringstraßen bilden die Hauptschlagadern der Pekinger Verkehrsführung.

*** Gerade Krankenhäuser zählen in Peking zu den größten Menschenmagneten, weil die medizinische Vorsorgung dort weitaus besser ist als anderswo. Laut Vista reisen jedes Jahr knapp 50 Millionen Auswärtige zur Behandlung in die Hauptstadt.

Im Mai 2014 zuerst erschienen bei:

stimmen-aus-china.de

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Geschrieben von

chinaschau

Autor: Oliver Pöttgen | chinaschau@web.de | fachchinesisch.tv

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