Wie im Gemeinschaftskunde Unterricht

Bücherkalender ChristianBerlin ärgert sich über Marina Weisbands lehrbuchhaftes Politikverständnis und stellt dem Gemeinwohl seinen mächtigsten Gegner gegenüber

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Foto: jokebird/photocase
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Berlin im April 2013. „Die Frau hat von Politik keine Ahnung“, flüstert meine Begleiterin. Wir lauschen Marina Weisband. Die politische Ex-Geschäftsführerin der Piraten liest im Literaturladen Ozelot aus ihrem Buch „Wir nennen es Politik“. Das hat meine Begleiterin weder gelesen, noch hat sie verstanden, was Marina daraus vorliest. Sie selbst gehörte zur Grünen Partei, die sich 2009 in der Islamischen Republik Iran im Schutz der Anonymität des Internets gegen Wahlfälschung und Autokratie erfolgreich zur Wehr setzte – bis ein deutscher Konzern dem Regime die Identifizierungs-Software für Blogger und Twitterer lieferte. Wer aus einer Gegend kommt, wo Politik von unten Gefahr für Leib und Leben bedeutet, könnte deshalb schon rein intuitiv meinen, dass eine mit viel Erzählfreude über ihre unverhoffte Wahl und neue Ideen plaudernde Autorin eines nicht sein kann: politisch. Dabei besteht Marinas Weisbands Buch – wie das Konzept ihrer Partei – aus einem einfachen Gedanken, den man auf den ersten Blick für politisch halten könnte: Es geht um die Entfaltung der Utopie, wie mit den Mitteln des Internets die politische und kulturelle Teilhabe verbessert werden könnte, statt aufkeimende Chancen dazu privaten Gewinn-Interessen zu opfern. Wie beiläufig benennt dieses Konzept damit sogar seinen wichtigsten Gegenspieler. Aber es unterschätzt ihn. Und das gnadenlos. Dass Lösungen unter Teilhabe aller diskutiert und abgestimmt werden, kann dazu führen, dass so die besten aller möglichen Lösungen erarbeitet werden. Das bedeutet aber nicht, dass sie auch durchsetzbar sind. Diesen Unterschied zeigt die jüngere Entwicklung Europas auf drastische Art. Die Volksbefragungen über die EU-Verfassung hatten zwar in einem Land nach dem anderen zu deren Ablehnung geführt. Trotzdem kam sie, umgetauft in EU-Vertrag, und dann eben ohne dass das Volk erneut gefragt wurde. Bei der Einführung ihrer gemeinsamen Währung haben die Euro-Länder leider verkannt, dass sie mit der Abschaffung von Notenbanken ihre Souveränität in die Hände privater Geldinstitute geben. In Griechenland oder Zypern kann jetzt das Volk abstimmen, wie es will, was dort zu geschehen hat, bestimmt der Finanzmarkt. Auch das Budget-Recht der reichen Länder reduziert sich mit wachsendem Volumen auf das Recht ihrer Regierungen und Parlamente zu beschließen, was die Märkte diktieren. In Marinas Buch ist dagegen alles noch so, wie es im Gemeinschaftskunde-Unterricht gelernt wird: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Wenn Politik so funktioniert, könnte man sie jetzt mit Hilfe des Internets optimieren, weil man wieder einen Raum hat, der theoretisch groß genug wäre, dass sich alle darin versammeln können. Jeder könnte in jedem Moment frei entscheiden, ob er sein Rede- und Stimmrecht selbst wahrnehmen oder an Repräsentanten seines Vertrauens delegieren will („Liquid Democracy“). Auch wenn in einer funktionierenden Demokratie so noch mehr Demokratie möglich wäre, kann dieses Mitwirkungssystem keine Antwort auf die aktuelle Überlebensfrage von Demokratie und Politik überhaupt sein, wo diese ohnmächtiger denn je von wirtschaftlichen Notwendigkeiten vor sich her getrieben werden. Private Gewinn-Interessen waren schon immer der Motor wirtschaftlicher Prosperität und deshalb von je her der mächtigste Gegner von Politik, sobald sie mit dem Gemeinwohl in Konflikt stehen. Wer Politik erklären will, muss sagen, wie er diesen Gegner einzuhegen oder an die Kette zu legen gedenkt, wie er private Gewinn-Interessen an das Gemeinwohl knüpfen und dieses Gemeinwohl außerdem global definieren will. Was diesen Anspruch nicht einlöst, kann sympathisch und authentisch sein - nur eins mit Sicherheit nicht: Politisch.

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Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

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