Bri-Bra-Brexit

Brexpop Wo bleiben die Protestsongs gegen den EU-Austritt? Das Haus der Kulturen der Welt in Berlin sagt schon mal laut: „Goodbye UK – And Thank You for the Music“
Ausgabe 31/2018
Das Anheben einer Gitarre erfordert sogar noch mehr Kraft als das Ausfüllen eines Stimmzettels
Das Anheben einer Gitarre erfordert sogar noch mehr Kraft als das Ausfüllen eines Stimmzettels

Foto: Wolfgang Soder/K&K/Getty Images

Wie die Befürworter des Brexit tönen, hat der Journalist Oscar Rickett kürzlich für den Guardian in Erfahrung gebracht. Auf der Big Brexit Party in einem Club namens Troubadour, der lange vor der bloody EU im Londoner Westen gegründet wurde. Untertitel der Veranstaltung: A Celebration of Democracy. Eine konservative Parlamentarierin, eine Ex-Labour-Abgeordnete und die Gründerin der Lobbygruppe „Leavers of London“ stellten ihr Bühnentalent unter Beweis. Letztere, schrieb der Autor, erfand mal eben „ein ganz neues Genre – die „Bropera“, oder auch: Brexit-Oper“ –, als sie auf Italienisch über die Verachtung sang, unter der sie als Gegnerin der EU zu leiden hat. Andrea Jenkyns von den Torys sang ihre Eigenkomposition The Spell, mit der sie, O-Ton, hoffte, „das Kabinett mit einem Zauber zu belegen“. Es muss einer dieser schlampig ausgeführten Sprüche gewesen sein, wie man sie aus Harry Potters erstem Schuljahr kennt: 20 Minuten nachdem die Party im Troubadour vorbei war, erklärte Brexit-Minister David Davis seinen Rücktritt, tags darauf trat auch Boris Johnson zurück. Das Fazit des Autors: So irre und richtungslos dieser Abend war, den Brexit selbst konnte er nicht toppen.

„Stay“-Rufe verhallen

Die eigentliche Frage ist ja, wo die Protestsongs gegen den Brexit bleiben, die Lieder der Loser. Was ist mit den Ängsten der jungen Generation vor dem Verlust der Freizügigkeit, dem Ärger über die eigene Apathie vor dem Referendum? Warum brüllt die keiner in ein Mikro? Weil es noch anstrengender ist, als einen Stimmzettel auszufüllen? Das einzige halbwegs bekannte Lied, Mick Jaggers England’s Lost, stammt von einem 75-Jährigen, der im Frühjahr 2016 in einem Fernsehinterview noch sagte, langfristig könne der Brexit womöglich von Vorteil sein.

Und dann ist da noch Matthew Herbert, dessen Œuvre von waschechten House-Tracks bis zur Vertonung eines Tages im Leben eines Mastschweins reicht. Einsteigern sei die Herbert-Complete-Box empfohlen, die in 13 Stunden und fünf Minuten immerhin sein Schaffen von 1996 bis 2006 rekapituliert.

Als Theresa May am 29. März 2017 Artikel 50 des EU-Vertrags auslöste, indem sie Ratspräsident Donald Tusk in einem Brief das Austrittsgesuch der Briten übermittelte, da launchte Matthew Herbert die Seite The Brexit Sound Swap, eine Art Onlinetauschbörse für europäische Klänge. Wer sie besucht, kann dreisekündige Soundclips aufnehmen und hochladen und im Austausch alle anderen Clips hören. Eine „Bibliothek gemeinsamer Ressourcen“, eine „akustische Petition“ könne das werden, hoffte Herbert damals. 600 solcher Schnipsel, sagte der Musiker vergangene Woche dem Tagesspiegel, seien in sein aktuelles Projekt, die Brexit Big Band eingeflossen. Die Seite brexitsoundswap.eu macht derweil einen desolaten Eindruck. Klickt man „alle Sounds“, hört man es ein wenig Quatschen, Tröten, Trommeln. Der gleichnamige Twitter-Account hat 42 Follower und liegt seit dem 30. März 2017 brach.

Mit der Brexit Big Band tourt Matthew Herbert jetzt durch Europa. Korrekter: Herbert tourt, und wo er ist, entsteht die Band aus lokalen Musikern und Sängern. Im Berliner HKW ist der Chor der Kulturen der Welt dabei, zum Auftakt der Konzertreihe Wassermusik. Deren Motto dieses Jahr: Goodbye UK – And Thank You for the Music. Es beginnt mit einer Choralversion von John Donnes Gedicht No Man is an Island, dessen Titel schon der Künstler Wolfgang Tillmans vor der Abstimmung für Plakate nutzte, mit denen er für den Verbleib in der EU warb. Ein kleines Update bekommt Herbert Donnes Text von 1642, „Every women is a piece of the continent“ heißt es nun; die Stunde, sie hat allen geschlagen.

Hymnentauglicher wird es an diesem Abend nicht. Die Songs gehen weniger in den Kopf als in die Beine, das Vertragswerk selbst wird abgeklopft auf Parallelen zu Scheidungspapieren, die Daily Mail geräuschvoll in Konfetti verwandelt; no hard feelings, auch wenn die akustische Abstimmung hier 100 Prozent „Remain“ ergibt.

Zu einem Stück, das auf einer Wanderung entlang der britisch-irischen Grenze basiert, werden Papierflugzeuge ins Publikum geworfen. Kopien von Zetteln, auf die Besucher des Londoner Konzerts ihre „Botschaft an Europa“ geschrieben haben. Gleichzeitig darf zurückgeworfen werden, Papier wird durch die Reihen gereicht, die Leute kritzeln, falten, schmeißen. Die Flieger von oben ziehen elegante Kreise, die von unten landen schnell auf der Schnauze. „Don’t go too far“ steht in krakeligen Großbuchstaben auf einem, der sich mit bestem Willen nicht mehr flugfähig falten lässt. Vergleichsweise sophisticated liest sich die „Message to Europe“ auf einem aus umgekehrter Richtung abgefangenen Geschoss. „Let’s stick 2gether“, fordert die Verfasserin oder der Verfasser, lobt vorbildliche Schulsysteme und das Backhandwerk, bittet aber auch: „Versucht nicht, rassistisch zu sein“: „I hate being racially profiled outside London.“

Der Versuch, Matthew Herbert nach dem letzten Song durch „Stay“-Rufe zurückzuholen, scheitert an der Lärmverordnung, die besagt, dass um 22 Uhr Schluss sein muss. Möglich aber auch, dass sie nur in Stellung gebracht wird, und eine Rückkehr nie vorgesehen war.

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