Bürgermeister No. 1

Wunschkandidat Yiorgos Kaminis, Verfassungsrechtler und unser Mann der Documenta in Athen
Ausgabe 11/2015
Yiorgos Kaminis, Bürgermeister von Athen
Yiorgos Kaminis, Bürgermeister von Athen

Foto: Hartenfelser/Imago

Ich habe zwei Bürgermeister, beide finde ich etwas blass. Der eine heißt Olaf Scholz und ist Bürgermeister der Stadt, in der ich wählen darf, der andere heißt Michael Müller. Könnte ich mir einen aussuchen, wäre es neuerdings Yiorgos Kaminis, der Bürgermeister von Athen. 2010 hat er als parteiloser Kandidat der Sozialisten die Konservativen von der Neo Dimokratia nach 24 Jahren aus dem Rathaus gefegt. Vergangene Woche nun war Kaminis auf der Tourismusmesse in Berlin, in der sogeannten Culture Lounge hinter der miefenden Halle der Österreicher. Nichts gegen Käse, aber wenn jede Region einen eigenen mitbringt, stinkt es gewaltig.

Kaminis war mit Kassels OB Bertram Hilgen auf der Messe, um ihre Documenta-Partnerschaft vorzustellen. Seit vergangenem Herbst ist bekannt, dass die Kunstschau 2017 in beiden Städten gleichberechtigt stattfinden wird, ihr künstlerischer Leiter Adam Szymczyk hat das so entschieden. Auftakt ist in Athen, in Kassel protestieren viele dagegen, irgendwie verständlich, den Ort definiert nun mal sein Documentastadtsein. Wobei Hilgen in seinem Teil der Rede Abhilfe in Aussicht stellt: Wenn im September in Kassel die neue Grimmwelt eröffne, werde man der Welt zeigen, welche Stadt in Deutschland die wahre Hauptstadt der Grimms sei. Nimm dies, Steinau an der Straße! Falls Kaminis rätselt, wovon sein Dolmetscher spricht, merkt man ihm nichts an. Vielleicht fragt er sich aber, ob ihm der Dolmetscher selbst etwas sagen soll. Der ähnelt nämlich frappierend Peer Steinbrück, der sich erst kürzlich in der taz beschwerte, ihn störe der „apodiktische Ton“ aus Griechenland. Wäre er mal hier, um dem Athener Bürgermeister zuzuhören.

Der zitiert erst einmal Albert Camus, mit den Worten, die der Schriftsteller 1955 bei einem Symposium in Athen sprach: „Die europäische Kultur ist eine pluralistische.“ Und weiter, aufs Heute gemünzt: „Die europäische Kultur bleibt ein Ort widersprüchlicher Werte und lebendiger Dialektik. Einer Dialektik, die nicht darauf aus ist, eine Ideologie zu schaffen, sondern die Grundlage für die europäische Freiheit ist.“ Nimm dies, Pegida! Kassel, fährt Kaminis fort, zeige sich weltoffen und schenke etwas. Eine mutige Sache sei das, revolutionär.

Kaminis trägt eine rote Krawatte zum dunkelblauen Cordjackett, er hat sehr freundliche, fröhliche Augen, die Bild-Leser wohl als Provokation empfänden, denn was kann in Athen schon Anlass zur Freude geben, wenn nicht die deutschen Steuermilliarden, die in Griechenland verzockt werden. Yiorgos Kaminis fallen im Gespräch ganz andere Punkte ein. „Die Krise“, sagt er, „hat viele Probleme gebracht, aber sie hat die Menschen gezwungen, mehr zu denken, mehr zu reflektieren.“ Kulturell gesehen, sprühe seine Stadt vor Leben. Sind Sie ein Mann der Kunst, Herr Kaminis? Ja, sagt er und schaut noch freundlicher: „Ich bin Verfasssungsrechtler, an der Universität von Athen.“ Die Krise, sagt er, breche mit Stereotypen und Traditionen. „In gewisser Weise ist sie revolutionär. Athen verkörpert heute die Dringlichkeit, die der Grundgedanke der Gründung der Documenta war.“ Schon wieder Revolution. Wären die Bürgermeister meiner Städte hier, müssten sie die Culture Lounge jetzt wohl zum Gefahrengebiet erklären.

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin „Kultur“

Christine Käppeler leitet seit 2018 das Kulturressort des „Freitag“, davor schrieb sie als Redakteurin vor allem über Kunst und die damit verbundenen ästhetischen und politischen Debatten. Sie hat Germanistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Journalismus in Mainz und Hamburg studiert und nebenbei als Autorin für „Spex. Das Magazin für Popkultur“ gearbeitet.

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