Hans im Glück

Außensicht Zwei aktuelle Berliner Ausstellungen werfen einen erstaunlich positiven Blick auf Deutschland
Ausgabe 41/2016

Was würde einer wie Johannes Haile fotografieren, wenn er heute nach Deutschland käme? Mit Sicherheit nicht den Hass in den Gesichtern der Menschen, die ihre Wut auf eine Regierung spazieren tragen, deren Politik ihnen zu weltoffen erscheint. Und gewiss auch nicht die Plakate dieser Menschen, auf denen „Volksverräter“ steht und „Wir sind das Volk“. Als der Äthiopier Johannes Haile 1962 nach Frankfurt flog, um sieben Wochen lang in Westdeutschland und Berlin zu fotografieren, da war er nicht auf der Suche nach dem Fremden oder nach den Konflikten, die aus gegenseitigem Befremden entstehen können. Haile interessierte, was ihn mit den Menschen, auf die er traf, verband. Meskerem Assegued, eine Kuratorin aus Addis Abeba, die seine Fotos erstmals in Deutschland zeigt, formuliert es so: „He saw himself in everyone. He saw himself, his cousins and friends. He didn’t photograph the other.“

Johannes Haile wurde 1927 geboren, er studierte in den 50ern in den USA und war als Fotograf bereits im Auftrag der UNO im Kongo gewesen, als ihn die deutsche Botschaft in Äthiopien 1962 beauftragte, Nachkriegsdeutschland zu fotografieren. Er bereiste in diesen sieben Wochen alle deutschen Großstädte, mittelgroße Städte wie Hannover, Mannheim und Wuppertal, kleine wie Rüdesheim am Rhein und Ortschaften wie das heute nicht mehr existierende Alversdorf, das in den 70ern dem Braunkohleabbau weichen musste.

Die Bäuerin in ihrer Kittelschürze am Melkschemel interessiert ihn ebenso wie die junge Frau mit dem schicken Kurzhaarschnitt am Labortisch. Es sind keine Stereotype, die Haile produziert, sondern vielschichtige Porträts. Die angehende Medizinerin fotografiert er nicht nur im Labor, sondern auch in der Kantine mit Kollegen ins Gespräch vertieft und in ihrem kleinen, aber elegant möblierten Dachzimmer am Schreibtisch über den Büchern. Hochkonzentriert sitzt sie da, die Beine übereinandergeschlagen, eine Zigarette in der aufgestützten Rechten. Die Bäuerin sehen wir auch vor der blitzsauberen Hoftür, an der Hand den Enkel in Lederhosen. Daneben ein kräftiger Mann, die Linke hat er in die Seite gestemmt, den Blick leicht amüsiert gesenkt. Ist er genant oder schaut er auf die verrutschten Kniestrümpfe des Enkels? Schon sind wir mittendrin in diesem bäuerlichen bajuwarischen Alltag. Und es gibt ein drittes und viertes Bild, sie zeigen die mittlere Generation, im Sonntagsdress auf der Veranda in ein Spiel vertieft, Steine ditschen über den Terrassenboden. Die jungen Männer tragen Kurzarmhemden und Lederslipper, die Begrünung scheint von einer Italienreise inspiriert.

Es sind sanfte Aufbruchs- und Umbruchsbilder, die von einer ungeheuer präzisen Beobachtungsgabe zeugen. In Berlin fotografierte Johannes Haile Passanten. Die Männer, auch die jungen, tragen Anzug, Krawatte und blankpolierte Lederschuhe. Nur einer tanzt aus der Reihe, er fällt erst auf, wenn man dem argwöhnischen Blick des Herrn in der Bildmitte folgt. Die Haare trägt er kinnlang und an den Füßen trotz Herbstwetters Flip-Flops. Badelatschen hat man damals wohl noch gesagt. Eine Brise San Francisco auf dem Ku’damm.

Deutschland 62 – war das wirklich dieses grundsympathische, der Zukunft zugewandte Land, das wir hier sehen? Johannes Haile starb wenige Monate vor der Berliner Ausstellung, ihn können wir nicht mehr fragen. Die Kuratorin hat zwei Antworten, die erste lautet schlicht: „He didn’t go for the angry people“ – er hatte es nicht auf die Wütenden angesehen. Der zweiten schickt sie selbst eine Frage vorweg: „Wie kann man in nur sieben Wochen so viele Fotos von positiven Menschen machen? Sie müssen da sein.“

Der andere Blick heißt die Ausstellung. Man kann von Johannes Hailes Blick, der das fokussierte, was ihm zukunftsträchtig erschien, gegenwärtig nur lernen.

Flüssige Identitäten

Ähnlich wohlwollend ist auch der britische Blick auf Deutschland, den der Martin-Gropius-Bau in Berlin seit dem Wochenende zeigt. Die Ausstellung Deutschland – Erinnerungen einer Nation kommt vom British Museum in London, dort wurde sie außerdem von einer Podcast-Reihe des damaligen Direktors Neil MacGregor auf BBC 4 flankiert, die online noch abrufbar ist.

Gleich im ersten Raum stößt man in dieser Schau auf eine Protestpappe am Stil, die Umrisse des Landes, schwarz-rot-gold, Berlin markiert ein Herz. Dazu der Slogan „Wir sind ein Volk“. Das Plakat von 1989 soll den jüngsten Wendepunkt in der deutschen Geschichte markieren, sagt MacGregors Ko-Kurator Barrie Cook, bevor der Tauchgang in die vergangenen 600 Jahre beginnt. Als deutsche Besucherin wird man von dem Plakat gedanklich allerdings erst einmal wieder in die Gegenwart gebeamt, wo es nun „Wir sind das Volk“ heißt und dieses „wir“ auf Abschottung gegenüber Fremden und Andersdenkenden drängt.

Ausgangspunkt der Ausstellung sind Objekte, entsprechend anschaulich ist sie. Der einen Münze um 1700 auf der britischen Insel – dem Pfund – werden auf einer Karte die rund 150 Landeswährungen in den deutschen Territorien gegenübergestellt. Zahlreiche Karten belegen, wie unstet deren Grenzen stets waren. „Flüssig“ nennt es Neil MacGregor. Mit diesen flüssigen Grenzen seien flüssige Identitäten einhergegangen, beides habe viele Errungenschaften überhaupt erst ermöglicht. Die Reformation? „In Großbritannien“, sagt Cook, „hätte Luther keine zwei Minuten überlebt.“ Zu stark sei die Hand der zentralen Macht in London gewesen.

Dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, als dessen Fan sich Cook mit Verweis auf die relative Autonomie der Territorien und Städte outet, ist ebenso eine ausführliche Sektion gewidmet wie den technischen Fortschritten vom Buchdruck bis zum ersten VW-Käfer. Der feine Humor hinter manchen Objekten mutet hingegen britisch an. Schau mal, was da ist, sagte eine Mutter vergangenen Sonntag in der gepackt vollen Ausstellung zu ihrem Kind. „Ein Naseinhorn“, rief das Mädchen entzückt. „Nashorn heißt das“, korrigierte die Mutter und schaute schon nicht mehr richtig hin, weil just vor der digitalisierten Gutenberg-Bibel ein Platz frei wurde. Aber das Kind hatte recht, auf dem Rücken des Tiers befindet sich ein gezwirbeltes Horn, das dort nicht hingehört. 1731 wurde es in der Meißner Porzellanmanufaktur gegossen nach dem Vorbild von Albrecht Dürers Rhinozeros, das der Meister 1515 gezeichnet und als Holzschnitt in Umlauf gebracht hatte – ohne eigene Anschauung des Tiers. Es ist ein plastisches Beispiel dafür, wie beharrlich sich Fehlwahrnehmungen halten, wenn sie ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Gleichzeitig erinnern die Kuratoren daran, dass die traditionsreiche sächsische Manufaktur vor über 300 Jahren das Handwerk den Chinesen abgeschaut hat. Da wurde Importware so lange zerbröselt und analysiert, bis die Produktion in Meißen gelang.

Leerstellen

Überraschend ist, dass diese britische Ausstellung über Deutschland ohne ein einziges Adolf-Hitler-Bild auskommt. Ihren Anspruch, konträr zu den Klischees der Briten zu arbeiten, haben die Kuratoren hier konsequent durchgezogen. Irritierend ist hingegen das Kapitel zum Holocaust. In den Wandtexten ist von „so verheerenden wie verhängnisvollen Ereignissen“ die Rede, von „politischen und ökonomischen Wirren“, die Hitler „ausgenutzt“ habe. Diese und andere Formulierungen klingen, als hätten die meisten Deutschen unter dem NS-Regime gelitten, als habe es kaum Täter gegeben. Und auch in den Exponaten bleibt dieser Aspekt eine Leerstelle. Ein Bastelbogen mit einem SA-Musikzug für Kinder zeigt sehr unzureichend, wie tief der NS-Kult den Alltag durchdrang. Das Replikat des Lagertors aus Buchenwald, dessen Inschrift „Jedem das Seine“ der Insasse und Bauhaus-Schüler Franz Ehrlich entwerfen musste, ist als Link zur Vernichtung von Kultur interessant, über das KZ selbst sagt es zu wenig aus.

Die Ausstellung endet mit einem Bild: Gerhard Richters Betty. Die Tochter des Malers in ihrem geblümten Bademantel, die über die Schulter zurückblickt. Für Neil MacGregor ist sie ein Symbol für die junge Generation, „die sich mit den Errungenschaften und Verfehlungen der Väter auseinandersetzt“. Die Stärke seiner Schau ist es, die vielfältigen Quellen der Errungenschaften aufzuzeigen.

Info

Mit anderen Augen. Fotografien von Johannes Haile ifa-Galerie, Berlin, bis 18. Dezember 2016

Der Britische Blick. Deutschland – Erinnerungen einer Nation Martin-Gropius-Bau, Berlin, bis 9. Januar 2017

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