Das Leid des Terrors

Breitscheidplatz Wir sind empörter, trauriger und wütender nach einem Anschlag in Berlin als nach einem Attentat in Peshawar. Was bei all dem Mitleid übersehen wird

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Warum empfinden wir mehr mit Berlin und Paris als mit Peshawar und Bagdad?
Warum empfinden wir mehr mit Berlin und Paris als mit Peshawar und Bagdad?

Bild: A Majeed/AFP/Getty Images

148 Menschen, darunter 130 Kinder, starben bei einem Terroranschlag am 14. Dezember 2014 in Peshawar, Pakistan. Wenig bis keine Regung. Bis zu 2000 Menschen starben während des Baga Massacres im Norden Nigerias zwischen dem 3. und 7. Januar 2015. Wenig bis keine Regung. 324 Menschen starben durch ein Bombenattentat am 3. Juli 2016 in Bagdad. Wenig bis keine Regung. 12 Menschen sterben in Berlin. Die Welt ist in Aufruhr.

Terroristische Anschläge werden plötzlich qualifiziert. Es ist ein „Anschlag auf die Freiheit“. Deshalb gibt es schließlich in Staaten, in denen die Freiheit längst beerdigt wurde, nehmen wir mal die Türkei und Ägypten als aktuelle Beispiele, auch keine Anschläge. Mit dem „Anschlag auf die Freiheit“ würde man sich wohl eher als Verfechter einer westzentrierten Denkweise outen. Mal davon abgesehen sind die größten Anschläge auf die Freiheit der westlichen Welt eine Kreation ihrer selbst: Trump, Brexit, PiS und Orbán werden die Freiheit weit mehr einschränken. Warum aber empfinden wir mehr mit Berlin und Paris als mit Peshawar und Bagdad?

Es wird argumentiert, dass das aktuelle Attentat besonders starke Emotionen auslöst, da es in unserer unmittelbaren Umgebung oder sogar in unserer Stadt selbst stattfand. Das erklärt aber nicht, warum die Welt während der Geiselnahme in Sydney am 15. Dezember 2014, bei welcher 3 Menschen (darunter auch der Geiselnehmer) ums Leben kamen, ebenso entsetzt war, während die mehr als 130 in einer öffentlichen Schule ermordeten Kinder in Peshawar wenige Stunden zuvor und rund 11.000 km näher an Deutschland gelegen wenig bis keine Aufmerksamkeit erregten. Es erklärt auch weniger, warum die französische Flagge nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo nicht nur die hiesigen Facebook-Profilfotos verzierte, sondern selbst das Opera House in Sydney, die Knesset in Jerusalem und den KL Tower in Kuala Lumpur, während die nigerianische Flagge unterging, obwohl in Baga nahezu zeitgleich hunderte Menschen massakriert wurden. Gleiches wiederholte sich dann knapp ein Jahr später. Anschläge in Paris und Beirut. Die (westliche) Welt trauert mit Paris, nicht mit Beirut.

Wir empfinden mit den Opfern in westlichen Staaten, weil wir uns Ihnen mehr verbunden fühlen, sie ähneln uns mehr und wir können uns eher vorstellen auch einmal unter ihnen zu sein. Schließlich waren wir vor nicht weniger als 4 Jahren auch mal auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin und es war wahrscheinlich auch noch genauso kalt. Wir empfinden aber nicht mit denjenigen, die sich in anderen (deutlich schlechteren) Lebensbedingungen befinden, die anders aussehen und einer anderen Kultur angehören. Wir können uns nicht in sie hineinversetzen. Unsere Empathie ist ausgewählt und begrenzt.

Wir sind empörter, entsetzter, trauriger und wütender nach einem Anschlag in Frankreich als nach einem Attentat in Pakistan. Sofern zumindest einige Deutsche unter den Opfern sind, empfindet man auch mal mit Istanbul. Aber nicht so stark. Wir empfinden mehr mit den Opfern unserer Gesellschaft, die wir aber ebenso wenig kennen wie jene, die im Irak, Syrien oder Afghanistan aufgewachsen und vor genau den Gruppen fliehen, die auch für die Anschläge im Westen verantwortlich sind. Selbst wenn dies psychologisch nachvollziehbar ist, rechtfertigt es nicht, daraus Schlüsse zu ziehen und seine eigenen oder gar staatliche Handlungen nach jenen Gefühlen auszurichten, die auf einem evolutionsbiologisch bedingten Schutzmechanismus basieren, aber in einer globalisierten Welt ihre Existenzberechtigung verloren haben. Die Moral ist unabhängig von der tatsächlich und subjektiv empfundenen Empathie.

Der Terror – so hart es auch klingen mag – bildet eine Brücke zu einem anderen Teil der Welt. Er gibt uns die Möglichkeit, uns besser in die Lage von Menschen zu versetzen, die in Palästina täglich um ihr Leben fürchten müssen. Dass das Leid in anderen Regionen der Welt jenes in Deutschland um ein nur schwer vorstellbares Ausmaß in Hinblick auf Terror, Armut und Hunger übersteigt, ist dabei noch gar nicht berücksichtigt worden. Der Terror könnte womöglich unsere kognitive Empathie, d.h. die Fähigkeit, sich in die Lage eines anderen Menschen in einer ähnlichen Situation zu versetzen, steigern. Es zeigt sich jedoch momentan erneut, dass wir uns nicht auf diesen Prozess verlassen können, scheint die Nadel der Empathie hierzulande doch selbst nach mehreren Anschlägen in Europa deutlicher auszuschlagen als bei einem Attentat in Asien oder Afrika. Unsere Fähigkeit, Empathie zu empfinden, ist beschränkt.

Solange wir nicht in der Lage sind, unsere begrenzte Empathie auszudehnen, sollten wir versuchen, unsere Empfindungen zu hinterfragen und unser westzentriertes Herdendenken abzulegen. Statt sich von Empfindungen leiten zu lassen, sollten wir versuchen, eine unparteiische Perspektive einzunehmen. In Anlehnung an Henry Sidgwick könnten wir uns etwa vorstellen, die Geschehnisse aus einem Blickwinkel des Universums zu beurteilen.

Aus dieser unparteiischen Perspektive lässt sich rational nicht rechtfertigen, warum einer Person in Deutschland mehr Empathie entgegengebracht werden sollte als einer Person im Irak. Die Reichweite unserer Empathie ist allerdings nicht nur in Bezug auf terroristische Anschläge begrenzt, sondern auch mit Blick auf andere Missstande und Grausamkeiten dieser Welt. Dies zeigt sich beispielsweise besonders deutlich in den Forderungen nach einer Begrenzung der Aufnahmebereitschaft gegenüber Menschen, die vor Hunger, Armut und Verfolgung fliehen.

Aus einer unparteiischen Perspektive würde man wohl nicht nur versuchen wollen, die 22 Menschen retten zu wollen, die aufgrund islamistisch motivierter terroristischer Attentate im Jahr 2016 in Deutschland ums Leben gekommen sind, sondern auch die 500.000 Menschen, die noch immer jährlich an den Folgen einer Malariaerkrankung sterben. Man würde dann wohl abwägen müssen, ob es richtig ist, Millionen in die Terrorabwehr und Sicherheitspolitik zu investieren, um die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Anschlags, wenn auch nur in geringem Maße, zu verringern oder ob man z.B. die Against Malaria Foundation unterstützt, die mit durchschnittlich 3.232 Euro den Tod eines Menschen durch die Verteilung von Bettnetzen verhindert.

Beim Anschlag am Breitscheidplatz sind am letzten Montagabend auf grausame Weise 12 Menschen ums Leben gekommen. Während wir mit den Angehörigen der Opfer trauern, sollten wir uns nicht einem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit hingeben. Täglich sterben 1370 Menschen an Malaria, deren Tod mit einfachen Mitteln zu verhindern wäre. Empathie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes, durchaus beklagenswertes, Leid. Sie verhindert allerdings auch eine reflektierte und verhältnismäßige Einschätzung des Geschehenen. Dies ist besonders fatal, wenn der Fokus von dringenden und womöglich gar noch bedeutenderen Problemen abgelenkt wird. Nur durch die Einnahme einer unparteiischen Perspektive gelangen wir in eine Position, die uns ermöglicht, großes Leid zu verhindern.

Antonia Jülich (Mitautorin)
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christoph Winter

Christoph Winter forscht an der philosophischen Fakultät der Princeton University.

Christoph Winter

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