Doreen oder Die Mädchenwelt (1)

1.0.0. Rank - schlank - krank. In einer Welt des Überflusses ist Magersucht eine Krankheit, die provoziert. Doch was bewegt Frauen, die an Anorexia leiden. Eine Doku-Geschichte

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Prolog

Mädchen fein,

komm herein,

lass uns gute Freunde sein -

Weißes Kleid,

fliegt so weit -

Mach die Beine breit …

Der Platz hinter der Tenne besteht aus einem Stück Graslandschaft - kein Rasen sondern gemähtes oder niedergetretenes Grün, von Trampelpfaden durchzogen und hohen Laub- und Fichtengewächsen schattig gesäumt. Buschige Hecken begrenzen die Seiten und über den Platz verstreut breiten ein paar kümmerliche Apfelbäume ihre Zweige aus. Es ist die Nordwestseite des Hauses, wo die Sonne erst am Nachmittag scheint.

Jeden Mittwochmorgen zwischen elf und halb zwölf biegt ein weißer Bulli von der nahe gelegenen Landstraße ab, nähert sich über einen holprigen Feldweg und fährt um das baufällige Gehöft herum, bis er den Platz hinter der Tenne erreicht. Der nächste, noch bewirtschaftete Hof liegt etwa einen halben Kilometer entfernt an der Einmündung der Landstraße, die vom Dorf aus kommend an verstreuten Anwesen und Flächen mit Siedlungshäusern vorbei bis zur nächsten Ortschaft führt. Von dem Platz hinter der Tenne aus sieht man Felder, Wiesen und entfernte Baumbestände mit Unterholz sowie in unmittelbarer Nähe ein angrenzendes Gartenstück mit Kartoffel- und Gemüsebeeten, das von den Bewohnern des Hauses genutzt wird.

Eine Frau kommt mit zwei Kindern aus der offenen Tennentür über einen der Trampelpfade an den Wagen heran. Das jüngere Kind ist ein lieblicher Fratz mit dunklem Ringelhaar und bewegt sich mit den trippelnden Schritten einer Drei- oder Vierjährigen an der Hand der Frau. Ihre ältere Schwester, ein weißblonder Pummel mit Haartolle, dürfte sechs oder vielleicht schon sieben Jahre zählen und wird wohl bald in die Schule gehen. Sie trägt ein rot-gemustertes, sackartiges Kleid. Die Frau ist voll erblüht, man sieht an der schweren Brust, dass sie Kinder geboren hat. Eine Trägerschürze bedeckt den Rock, dessen Saum bis zu den Waden reicht, wie es die Mode der Zeit verlangt. Ihr schwarzes Haar springt üppig auf von einer starken Dauerkrause und ist mit zwei Kämmen an den Seiten festgesteckt.

Der Fahrer des Bullis steigt aus, ein dicklicher Mann mittleren Alters mit einem fleischigen Gesicht, umrahmt von einem spärlichen Kranz rötlich-blonden Haarflaums, gekleidet in eine weiße Bäckerkluft. Er macht seine Runde, ein Kaufmann, der irgendwo in dieser abgelegenen Gegend einen Gemischtwarenladen unterhält, meistens jedoch unterwegs ist und hauptsächlich Backwaren und andere gängige Artikel verkauft, die er in seinem Bulli mit sich führt. Die Frau wählt aus, ein oder zwei Laibe frischen Brotes sowie ein paar Konservendosen, die neuerdings sehr beliebt sind. Sie muss nicht gleich bezahlen, sie darf anschreiben lassen, was eine große Hilfe und zu dieser Zeit überall üblich ist. Geld ist knapp und das Wirtschaften fällt ihr schwer. Für die größeren Einkäufe fährt sie einmal in der Woche mit dem Fahrrad zu dem Edeka-Geschäft mitten im Dorf, doch benötigt sie für eine große Familie zwischendurch immer Nachschub an Brot. Nur selten kann sie sich eigene kleine Wünsche erfüllen. Ist sie mit den Einkäufen fertig, kehrt sie mit ihrer Jüngsten ins Haus zurück, der Pummel bleibt zurück.

Der Bäcker öffnet die Beifahrertür des Bullis und setzt das Kind hinein. Dann steigt er selber ein. Es ist ein friedliches Fleckchen Erde, ein Stück in sich ruhender Natur, wie gemacht, um es romantisch zu besingen. Im Sommer befinden sich Klatschmohn und Kornblume in den Getreidefeldern, ein sanfter Wind streicht durch die Gräser oder bewegt die Baumkronen, man atmet den Duft von Heu oder lauscht dem Summen der Bienen und Mücken. Kinder essen sorglos den ausgerupften Sauerampfer vom Wegrain und suchen im Gras nach den vierteiligen Blättern des Glücksklee. Schweigen liegt über dem Idyll. Manchmal raschelt es am Boden oder im Gebüsch, dann huscht eine Wühlmaus vorbei oder ein Vogel fliegt auf. In der fetten Erde ziehen weißliche Würmer unsichtbar ihre geschmeidige Bahn.

Der Wagen steht dort vielleicht eine Viertelstunde lang, von niemandem beachtet und niemandem gestört. Die Frau ist vormittags fast immer mit den jüngeren Töchtern allein. Der Mann ist zur Arbeit und die größeren Kinder sind in der Schule im Dorf. Manchmal bewegen sich die Gardinen im Vorderhaus, wo ein älteres Ehepaar lebt, das zu dem nahe gelegenen Bauernhof gehört. Mit der Frau und ihrem Anhang, die hier zur Miete wohnen, sind sie nicht verwandt und sie vermeiden jeden Kontakt. Sie sprechen abfällig von ihr und den Ihrigen als von den Zugereisten und Dahergelaufenen und fühlen sich von den Kindern gestört, für die der Platz hinter der Tenne ihr täglicher Spielplatz ist. Manchmal stiebitzen die Kinder auch Eierplaumen und tief hängende Äpfel von den Bäumen im Vorgarten des Hauses, dessen Nutzung dem alten Ehepaar zusteht. Dann gibt es ein großes Geschrei und Gezetere, obwohl das Obst nie geerntet wird sondern am Boden verfault. Der Gruß der beiden Alten ist kurz und unfreundlich, wenn sie der Frau begegnen.

Schließlich steigt das Kind aus dem Bulli, bekommt vielleicht noch ein Stück Streuselkuchen vom Vortag in die Hand gedrückt, weil es auch an diesem Tag ein braves Mädchen war. Die Sonne scheint wie vorher, der Wind seufzt, und der Bäcker fährt davon. Nächsten Mittwoch kommt er wieder und wenn der blonde Pummel einmal nicht mehr da ist, spielt auf dem Platz hinter der Tenne vielleicht die kleine Dunkelhaarige, singt dort das Kinderlied vom Hänschen klein und träumt davon, wie das Leben wohl sein wird, wenn sie ein großes Mädchen geworden ist. Kinder vergessen schnell, hört man zu dieser Zeit die Leute oft sagen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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