Doreen oder Die Mädchenwelt (10)

1.8.2. Die Heimreise beginnt. Alles scheint in schönster Ordnung zu sein, doch der Ausflug ist noch nicht zu Ende ... Kapitel 8/9: Der Bäcker ist zurück - 8.2: Der Eklat

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Kurz darauf waren sie wieder auf der Autobahn, und Dagmar lehnte sich entspannt und schläfrig zurück, froh, dem Liebesausflug für dieses Mal ohne größere Blessuren entkommen zu sein. Von der Amerikareise war während der vergangenen Tage, wie aus einem Einverständnis heraus, nicht die Rede gewesen, tatsächlich war ihr der Gedanke daran, ihn eine ganze Woche lang ständig um sich zu haben, sich mit ihm eingesperrt zu fühlen, zwischendurch völlig unerträglich gewesen, aber mit dem Ende der Reise in Sicht begann sie sich besser zu fühlen und sah die Möglichkeiten künftigen Zusammenseins in einem weniger drastischen Licht. Es war doch eigentlich ganz nett gewesen, man musste sich schließlich aneinander gewöhnen, alles in allem hatte er sie nicht allzusehr bedrängt sondern sich einigermaßen zuvorkommend gezeigt. Zwar hatte sie gehofft, er werde sie in München etwas herumführen, ihr ein wenig große Welt zeigen, und zumindest in dieser Hinsicht, das war ihr schonungslos klar geworden, hatte sie ihn völlig überschätzt; andererseits war die Zeit dafür eben zu kurz gewesen, im Übrigen konnte sie schließlich auf eigenen Füßen stehen und ohnehin war es besser, man hockte nicht zuviel zusammen.

Im Grunde ist er ein netter Kerl, ein gutmütiger Teddy, der umschmeichelt werden und ein paar Bedürfnisse gestillt haben will, dachte sie, weshalb es doch geradezu blanke Idiotie wäre, jetzt noch auf die einmalige Gelegenheit zu einem kostenlosen Amerikatrip zu verzichten, nachdem der erste Schritt bereits getan war. Ganz abgesehen davon gab es vielleicht noch andere Dinge, die er ihr bieten oder bei denen er ihr nützlich sein konnte: Vielleicht würden sie ein Arrangement treffen - man verabredete sich einmal im Monat oder maximal alle zwei Wochen und dafür unterstützte er sie ein wenig und steuerte etwas zu ihrer neuen Wohnung bei, wo er sie ungestört besuchen konnte. Allzu brave Frauen waren doch im Grunde langweilig, auf mittlere Sicht standen sich Frauen, die ihre Chancen zu nutzen wussten, deutlich besser als all diese Ehrpusseligen, die vor lauter Skrupeln nie dazu kamen, ihr Leben zu genießen. Ihr gefiel die Aura des Verruchten, die Vorstellung, so etwas wie ein Doppelleben zu führen, sie musste es nur so einrichten, dass er möglichst wenig ihre Essgewohnheiten störte.

Als sie ihn bat die Heizung anzustellen, warf er ihr einen Seitenblick zu, erhob aber keine Einwände, und nur Augenblicke später begann sie den wärmenden Luftstrom zu fühlen. Soll er denken was er will, dachte sie, was kann ich dafür, dass es in diesem August besonders kühl ist; jeder sagt, es sei lausig kalt für die Jahreszeit, aber er mit seinem ganzen Speck friert natürlich nicht, während sie viel zarter gebaut ist und mehr unter der Kälte zu leiden hat.

Außer Rand und Band

Sie schlief fast ein und hörte nur abwesend seinen gelegentlichen Bemerkungen zu. In der Nähe von Würzburg machte er eine längere Rast, um ein Abendbrot einzunehmen, und auch Dagmar, die den ganzen Tag über kaum etwas gegessen hatte, nahm ein Käsesandwich zu sich und trank einen heißen Tee. Zwischen Frankfurt und Gießen gerieten sie in einen Stau und kamen eine Zeit lang fast nur im Schritttempo voran. Das Licht wurde milchig, dann schattig, die Dämmerung brach unauffällig herein. Er schaltete das Radio ein, zuerst die Nachrichten, danach ein Gemisch aus leiser Instrumentalmusik, eine Big Band spielte Swing, Evergreens, Schlagermelodien, im Innern des Wagens machte sich eine fast trauliche Stimmung breit, sie saß in die Polster gekuschelt, wie abgeschirmt in dem weichgängigen Fahrzeug, während draußen die Außenwelt gedämpft an den Fenstern vorbeistrich.

Fahrzeuglichter blinkten in langer Schlange in der Dämmerung; schemenhafte Silhouetten von Karosserien und Leitplanken, vage Konturen von Landschaft, entfernte Hügel und Bäume versanken in der schnell einfallenden Dunkelheit, dann gewannen sie wieder freie Fahrt, er fuhr jetzt entgegen seiner sonstigen Gewohnheit zügig, fast schnell, den Blick geradeaus gerichtet, streifte sie nur hin und wieder mit einem flüchtigen Blick.

Sie zuckte innerlich zusammen, als er seine Hand auf ihr Knie legte. „Hat es dir gefallen, die Reise?“ fragte er.

Sie gab sich zärtlich, streichelte kurz über seinen Arm und sagte: „Natürlich, es war wirklich schön, ich fand‘s toll ...“

Er lächelte zufrieden, während er seine Hand suchend zwischen ihre Schenkel schob. Sie ließ ihn gewähren, froh darüber, dass sie eine Hose trug, so dass seine Finger nicht allzuweit kamen, und dachte, dass diese Gesten ohnehin nur noch schmückendes Beiwerk waren, der Ausflug war vorbei und sie aus ihren Pflichten entlassen. Einen Moment später zog er die Hand zurück.

Sie erstarrte, als er plötzlich den Blinker setzte und sich nach rechts zur nächsten Ausfahrt hin einzuordnen begann. Der Name eines unbekannten Ortes, wahrscheinlich ein Provinznest, tauchte vor ihr auf.

„Wohin fährst du?“, fragte sie erschreckt.

„Ich muss nur austreten,“ erwiderte er in scherzendem Ton, „meine Blase macht nicht mehr mit.“

„Und warum fährst du nicht auf den nächsten Rastplatz?“

„Wir fahren nur ganz kurz runter,“ sagte er gleichmütig, „danach geht’s gleich weiter.“

Er lächelte ihr wieder zu, während sie sich in einer plötzlichen Folge wirrer Assoziationen bereits gefangen, gefoltert, vergewaltigt und ermordet sah. Sie saß jetzt aufrecht und angespannt da, beobachtete den Kegel der Scheinwerfer durch die Windschutzscheibe und versuchte sich mit alarmierten Sinnen genau die Straße, den Weg zu merken, den er nahm, als er abbog, ein Stück fuhr, nochmals abbog und schließlich in der kurzen Einmündung eines Wiesenweges, am Rande einer in der halb durchsichtigen Dunkelheit wie gottverlassen daliegenden Straße zum Halten kam. In Dagmars Kopf trug eine emsig ratternde Spule der Wahrnehmung die Details zusammen: Er konnte seit der Abfahrt höchstens drei Minuten gefahren sein, also waren sie von dort nicht allzuweit entfernt; wenn er sie bedrohte, durfte sie sich keine Angst anmerken lassen, sie durfte ihn nicht reizen, sie musste mit allen Mitteln versuchen ihn in Schach zu halten, sich nachgiebig zeigen und dann - - - in einem günstigen Augenblick entwischen. Er wandte ihr wieder das Gesicht zu, ein lächelndes Mondgesicht mit einem lüstern verzogenen Mund, die schmalen, aber prallen Lippen leicht geöffnet, und sie wusste, dass dahinter schon der feuchte Klumpen seiner Zunge in Bereitschaft lag, sich gierig in ihren Schlund hineinzuwühlen. Hier, an diesem verlassenen Ort wollte er endlich die Sau rauslassen, hier wollte er seinen Dreck über sie ausschütten. So also tickte er. Er gierte nach der Rolle des geilen Sittenstrolchs, der seine Brunst im Unterholz befriedigte.

Seit der vergangenen Nacht hatte es in ihrem Kopf zu spuken begonnen, etwas war emporgestiegen - der massige Körper, die Gesten, der keuchende Atem, der gewölbte Bauch, sie kannte diesen Mann und wusste was er wollte, der Bäcker war zurückgekehrt, ekelerregend und grauenhaft vergiftete er die Gegenwart. Ein Gedanke flatterte zusammenhanglos durch ihren Kopf, archaisch, brutal, endgültig: Tot das Schwein …

Sie saß kerzengerade da, verfolgte die eigenen harten Atemzüge bis tief ins Zwerchfell hinein, konzentriert und entschlossen, ihm für nichts in der Welt freiwillig auch nur die kleinste Berührung zu gestatten. Sie wollte diesen Mann nicht, sie wollte nichts von dem, was hier geschah, sie hatte nicht erlaubt, dass dieses hier geschah, sie würde selbst auf die Gefahr des Todes hin - - - Wenn dieser Unhold es wagte - - -

Regungslos, die Augen schmalgezogen, eine steile Falte auf der jungen Stirn, starrte sie ihn an, als er nach ihr griff oder vielmehr nach ihr greifen wollte, um sie zu sich herüberzuziehen.

„Na, wie ist es?“, fragte er blöde.

Sie schob ihn zurück, entwand sich, unternahm einen letzten Versuch, eine gequälte Freundlichkeit aufrecht zu erhalten: „Ich möchte das nicht,“ sagte sie mit vor Nervosität stockender Stimme.

Er lächelte wieder sein lüsternes Lächeln, versuchte erneut sie zu sich heranzuziehen, nach ihren Schenkeln zu greifen, ihr mageres Gesäß zu ertasten: „Nun komm doch, kleines Früchtchen,“ murmelte er mit dümmlichem Gesicht.

Eine ungeheure Aggression gemischt mit einer herzbeklemmenden Angst, dieser entfesselte Wüstling vor ihr könne sich tatsächlich an ihr vergreifen wollen, brach in ihr los.

„Nein,“ fauchte sie wie eine Furie, „lass mich los.“

Die Zähne zusammengebissen, versetzte sie ihm einen entschlossenen Stoß vor die Brust. Seinen perplexen Blick nahm sie nur noch am Rande wahr, da sie bereits von ihm abgewandt am Griff der Tür zerrte, die sich aber nicht gleich öffnen ließ.

„Aber nun lass doch ...,“ stammelte er halb verwirrt, während seine plötzlich unentschlossene Hand in der Luft schweben blieb, doch sie nahm auch dieses nur noch im Hintergrund wahr, die Tür war jetzt offen, und in heller Panik, er könne wieder nach ihr greifen, stürzte sie hinaus und rannte mit langen, ausholenden Schritten in die kühle, windige Nacht davon.

Allein gelassen

Er stieg aus, trat ein paar Schritte zur Seite, um anscheinend, dem struhlenden Geräusch nach, das sie vernahm, tatsächlich Wasser zu lassen, blieb dann neben der Autotür stehen. „Komm zurück ... Wir fahren auch gleich weiter,“ rief er.

Sie hatte sich nur ein Stück entfernt hinter einem Baumstamm, zwischen leichtem Unterholz und hohem Gras versteckt und beobachtete ihn im Lichtkegel des Wagens. Es war einer dieser Momente, in denen der Mensch neben sich tritt und sein eigenes Tun wie mit fremden Blicken beobachtet. Sie wusste, dass sie sich hysterisch, albern, völlig unsinnig benahm; er würde ihr nichts tun, er würde nicht darauf bestehen, hier noch ein Schäferstündchen abzuhalten, er würde sie brav nach Hause fahren, ihr drohte keine Gefahr - aber die Frau neben ihr, das Kind aus dem Bulli, applaudierte ihr überschwänglich zu dem, was sie tat, und deshalb wollte sie hysterisch sein, sie wollte eine Szene machen, sie wollte in diesem Film, der vor ihrem inneren Auge ablief, das aus friedlichem Äsen aufgeschreckte Reh sein, das vor der Flinte des brutalen Jägers floh.

Obwohl sie sich damit in eine unmögliche Situation brachte.

Nachts allein irgendwo am Straßenrand herumzuvagabundieren war möglicherweise gefährlicher als bei ihm im Wagen zu bleiben, aber der Bäcker zwang sie dazu, sie musste dies tun, um ihm zu zeigen, wer sie wirklich war, dass sie ihm nicht mehr zu Willen war, nicht mehr die leichte Beute von ehedem, die sich wie ein Schaf zur Schlachtbank führen ließ ...

Ferdinand stand noch immer neben dem Wagen, während sie mucksmäuschenstill hinter dem Baumstamm kauerte; sie tastete nach der Brusttasche der Jeansjacke, in der ein paar Münzen steckten, während die Schultertasche mit Schlüsseln und Portemonnaie im Auto lag. Sie überlegte, ob sie zurückkehren sollte, doch schien ihr dies eine zu banale, zu lächerliche, zu kleinmütige Handlung zu sein. Er hupte jetzt mehrere Male laut und anhaltend, ein Geräusch, das die Stille schmerzhaft zerriss, dann hörte sie ihn ungeduldig etwas brummen, er stieg ins Auto, setzte abrupt zurück und fuhr davon.

Sie ließ sich zurückfallen und blickte in der schattig verlassenen Umgebung von Feldern, Wiesen und Wegrain umher, in der nicht mal in der Ferne das kleinste Licht zu sehen war. Einen Augenblick lang verharrte sie in dieser Stellung, stand dann auf und strich ein paar Brösel verdorrtes Blütenwerk von ihren sich in der nächtlichen Feuchtigkeit bereits klamm anfühlenden Kleidern. Sie registrierte noch den süßlich intensiven Geruch von Sträuchern im Unterholz, Beifuß oder Mädesüß, beunruhigte sich einen Moment darüber, ob eine Zecke sie während ihres Aufenthaltes im Gebüsch gebissen haben könnte, bevor sie, die Hände fröstelnd in die Taschen der Jeansjacke geschoben, zur Straße zurücktrottete. Eine große Müdigkeit erfüllte sie und eine vage Ratlosigkeit, wie das Abenteuer so hatte ausgehen können und ob dies die einzige Art von Abenteuer bleiben würde, die sie jemals erleben sollte.

Als Dagmar Stunden später in ihre Straße einbog, stolz darauf, wie bravourös sie die Krise gemeistert hatte und ohne größere Hindernisse nach Hause gekommen war, nicht mal die kleine Barschaft aus der Brusttasche hatte anzapfen müssen, nur besorgt darüber, wie sie in die Wohnung kam, stellte sich heraus, dass auch diese Sorge überflüssig war, da sich ihr komplettes Gepäck bereits abgestellt vor der Haustür befand. Sie sahen sich nicht wieder.

Fortsetzung nächste Woche.

Alle Namen / Ereignisse geändert.

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Geschrieben von

Christa Thien

Dr. phil., zugezogen in Leipzig. Themen: Arbeitswelt & Berufswege, Gesellschaftspolitik

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