Baum und Bäumchen

CoLyrik Viele Menschen suchen im Wald Ruhe und Entspannung beim Pilzesammeln. Ohne genaue Kenntnisse wird so mancher Korb gefüllt und dies führt dann zu Konflikten ...

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Gemeiner Hallimasch

Es war wieder so ein grandioser Herbsttag. Nachdem sich im Normalfall alle Menschen sehnen, die den Winter nicht mehr erwarten können. Die Laubbäume raschelten sanft, die im Mischwald nun langsam ihre Blätter verloren, um kahl neben den Nadelbäumen über Winter auszuharren. Ein herrlicher Anblick in den frühen Morgenstunden, so dachte Liborius Baum, der mit seinem erwachsenen Sohn Ambrosius, auch Bäumchen genannt, über die Wiese in Richtung Wald lief. Das Sammeln von Pilzen lockte in die freie Natur. Sein Vater trug uralte ausgelatschte Wanderschuhe, die ihm Onkel Sturmius vererbte. Ein Mann wie eine Eiche, die mit heftigem Donnerschlag vom Blitz getroffen wurde, als der Gute bei Gewitter im Freien wahrscheinlich nicht im Sitzen pinkelte. Jene vergilbten Schuhe hatten in all den Jahrzehnten viel Mist gesehen, aber auch leckere Pilze im Wald. Eichen-Sturmius trug einst Schuhgröße 46 und deshalb schlappte nun Liborius in viel zu großen Schuhen durch die Gegend. Und dies mit viel zu großen Augenringen Richtung Wald. Er hinterließ Spuren auf weichem Untergrund, die Rätseln aufgaben. Es hatte nachts zuvor geregnet und der Morgentau hing noch in den Spinnenfäden am Wegesrand. Außer einem sanften Lüftchen wehte auch Baums Atem in der ländlichen Botanik. Bäumchen beobachtete bei dieser Wanderung jede kleinste Regung seines Vaters. Schließlich hatte er seinen alten Herrn schon ein Weilchen nicht mehr gesehen. Baum war in die Jahre gekommen. Jenseits der Fünfzig durfte man als Mann durchaus Augenringe haben, die man allerdings nicht unbedingt mit den Jahresringen eines Mammutbaumes vergleichen sollte. Bäumchen erschrak instinktiv, war er doch ein echter Baum und stolperte dabei über ein Mauseloch. Spontan lief dem Sohnemann ein sonderbarer Schauer über den Rücken, als sich sein Vater einige Sekunden später an ihm kurz abstützte, weil er Atemnot bekam. Das Alter einer gestressten Raucherlunge zeigte sich von ihrer schönsten Seite und so gab es einen kleinen klebrigen Auswurf genau vor die neugierige Nase einer Feldmaus.

Für jede kleinste Erhebung die Bäumchen unter den Augenlidern seines Vaters entdeckte, dachte er bei diesem Spaziergang daran, wie viel Baumrindenschnaps Baum wohl inzwischen verköstigt hatte. Uropa Horstfrieds Rezept wurde quasi heiliggesprochen und so wurde das Gesöff nun seit einigen Jahren täglich getrunken. Baum sah bereits am frühen Morgen ziemlich alt aus und dies beunruhigte Bäumchen. Er dachte, dass er vielleicht später auch mal so aussehen würde, aber er trank ja noch nicht diesen Baumrindenschnaps, der bislang für ihn stets tabu war. Opa Wilderich, ein echter Rindenmulch-Experte, sagte damals auf seinem Sterbebett, dass man diesen Schnaps erst ab dem vierzigsten Geburtstag trinken solle, wenn die Seh- und Manneskraft nachließe. Sein Vater hatte inzwischen fünf Lesebrillen im ganzen Haus deponiert. Über die Manneskraft wurde nie ein Wort erwähnt, auch so ein Tabuthema, wenn man einen armseligen Baumstamm anstarrte. Bäumchen war jedenfalls kein Einzelkind und dies hatte nicht nur Vorteile. Nun war wieder das große Pilzesammeln angesagt, auch so eine Tradition im Hause Baum. Die meisten seiner Familienmitglieder starben seltsamerweise immer im goldigen Oktober.

Nachdem die beiden eine Weile unterwegs waren, kamen sie an eine Stelle im Wald, die überall von bunten Pilzen übersät war. Dieses Jahr war ein gutes Pilzjahr. Vorige Woche aß Bäumchen in einem guten Lokal einen riesengroßen Semmelknödel mit einer delikaten Pilzrahmsauce. Nach dem Verzehr der Pfifferlinge strahlte er über das ganze Gesicht, wie jetzt sein Vater, als er nun die vielen bunten Pilze entdeckte. Er hatte einen großen Korb mitgenommen und fing nun an wie wild zu sammeln. Bäumchen blickte sorgenvoll auf den Waldboden, denn sein Vater hatte schon längst seinen Geruchssinn verloren. Von wegen Gurkenduft und so, wenn man dann den Maipilz mit dem jungen ziegelroten Rißpilz verwechselt, dann konnte das Böse im Hause Baum enden.

„Hm! Heute Mittag gibt’s ne leckere Pilzpfanne!“, überkam es Baum völlig euphorisch.

„Du Papps, bitte sammle auch immer die doppelte Menge und friere diese Pilze dann ein.“, antworte Bäumchen.

„Warum, dass denn. Die meisten Pilze sind nicht wirklich giftig und die wenigen, die es sind, verursachen dann mal mehr oder weniger Bauchschmerzen.

„Ja und deshalb sollst Du ja die anderen Pilze einfrieren. Damit Du später weißt, von welchem Pilz Du heftige Bauchschmerzen bekamst!“

„Ich tau‘ die dann höchstens auf, um mir ein leckres Waldpilzsüppchen zu kochen!“

“Guck mal Vadder! Onkel Sturmius hat damals zu mir gesagt, dass der Gedrungene Wulstling mit dem giftigen Pantherpilz verwechselt werden kann. Nur der essbare Pilz schmeckt rettigartig. Hörst Du mir überhaupt zu?“, fragte Bäumchen nach.

„Nee! Schau mal wie schön die Pilze hier aussehen. Hm! Lecker!“ Und kaum hatte Baum diese Worte geäußert, lief er zielstrebig zu einem bildhübschen Gallenröhrling.

„Vadder!“ Halt! Stopp!“ Und schon war es passiert. Sturmius gammeliger Wanderschuh am viel zu kleinen Fuß des Vaters trat einen Hallimasch platt. Andere Pilzsucher hatten diesen Massenpilz bereits zuvor in diesem Waldstück gesammelt. Es war weit und breit nur noch das einzige Exemplar, das man hier sammeln konnte und Baum zermatschte ihn mit dem Schuh, der eine interessante Schuhsohle aufwies.

„Was ist denn?“, keuchte Baum genervt, weil ihn die Raucherlunge plagte.

„Vadder hier stehen überall giftige Pilze, aber den einzigen Pilz, den man hätte garen können, flatschst Du platt!“

„Du Angsthase! Da hinten steh‘n doch noch tolle Steinpilze.“ Und zeitgleich bückte er sich und kratzte mit dem Fingernagel den Pilz vom Schuh, also das, was noch von dem gemeinen Hallimasch übrig blieb.

Ganz versteinert starrte Bäumchen auf seinen Vater und fragte nur ganz zögerlich: „Was machst Du da?“

„Den Hallimasch kann man noch prima für die Sauce verwenden, roh in Scheibchen ist er sowieso ungenießbar.“

„Mensch Vadder! Spinnst Du jetzt völlig! Du kannst doch nicht den Matsch hier einpacken, an dem noch der Stallmist von Onkel Sturmius Schuh hängt.“

„Bäumchen Du hast nicht gedient. Keine Ahnung von Hungersnot. Nee Bäumchen, den kratz‘ ich ab und nehm‘ ihn mit.“

„Manno Baum! Das Sammeln von Pilzen mag ja für viele Menschen ein reizvoller Sport sein, aber mit Dir entdecke ich weder Entspannung noch Ruhe im Mischwald.“

„Jetzt reg‘ Dich ab. Wenn wir zu Hause sind, dann esse ich die Pilzpfanne alleine und Du trinkst auf mein Wohl einen leckeren selbstgebrannten Baumrinden-Schnaps.

„Nee Vadder! Ganz bestimmt nicht… Ich frier einen der Pantherpilze ein“

„Quatsch Pantherpilze! Das sind alles Wulstlinge!“, kam es Baum über die Lippen, die er dabei ziemlich fies zusammenkniff.

„O Vadder! Zieh doch eine deiner Lesebrillen auf.“ Bäumchen schüttelte dabei seinen Kopf.

„Klar doch! Im Wald brauch‘ ich doch keine Lesebrille. Ich kenn‘ alle Pilze wie Sturmius. Gott hab‘ ihn selig!“ Und stampfte dabei mit den viel zu großen Schuhen wie ein kleines trotziges Kind auf dem Waldboden herum.“

„O Vadder! …“

© Corina Wagner, Oktober 2012

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Geschrieben von

Corina Wagner

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